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07 Juni, 2009

Foucault-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung

rezensiert von Zara Pfeiffer


Clemens Kammler/Rolf Parr/
Ulrich Johannes Schneider (Hrsg.)


Foucault-Handbuch
Leben - Werk - Wirkung
Unter Mitarbeit von Elke Reinhardt-Becker
J. B. Metzler Verlag
Stuttgart 2008
454 S., Gebunden
Preis: EUR 49,95
ISBN: 978-3-476-02192-2



Welches Verhältnis hatten Foucault und Lacan? Wie beziehen sich Agamben und Negri auf Foucault? Was sagt Foucault zum Geschlecht? Und wie wird Foucault in der Soziologie oder Psychoanalyse rezipiert? Für genau solche Fragen ist das von Clemens Kammler, Rolf Parr und Ulrich Johannes Schneider im J.B. Metzler Verlag herausgegebene Foucault-Handbuch hervorragend geeignet. Die einzelnen Aufsätze haben eine Länge, die es erlaubt den jeweiligen Punkt auf hohem Niveau abzuhandeln, und sind gleichzeitig kurz genug, um beim Auftauchen einer solchen Frage, sofort komplett gelesen zu werden.

Die Struktur des Foucault-Handbuchs überzeugt und hält, was der Untertitel mit den Schlagworten Leben – Werk – Wirkung verspricht. Der erste Punkt Leben ist auf 8 Seiten angenehm kurz gehalten und verweist am Ende auf ausführlichere Biographien Foucaults.
Das Werk Foucaults wird in den Kapiteln II bis IV abgehandelt. Das zweite Kapitel Werke und Werkgruppen gibt eine systematische Übersicht über die einzelnen Hauptwerke, die Dits et Écrits und die Vorlesungen Foucaults. Das dritte Kapitel Kontexte befasst sich mit den maßgeblichen Referenzautoren Foucaults wie Kant, Hegel, Marx, Nietzsche und Heidegger. Die zeitgenössischen Bezüge in Frankreich wie die Phänomenologie und der Existentialismus, das Denken Louis Althussers, Jacques Lacans, Gilles Deleuzes und Jacques Derridas bekommen ebenso ihren Platz wie wichtige Anschlüsse an Foucault wie Judith Butler, Giogio Agamben, Antonio Negri sowie die Interdiskurstheorie und –analyse. Außerdem werden die Überschneidungen und Differenzen zwischen den Denken Foucaults und der Kritischen Theorie, von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann behandelt. Im dritten Kapitel werden schließlich eine Auswahl der zentralen Begriffe und Konzepte Foucaults behandelt. Hier finden sich Aufsätze über die Archäologie, das Archiv und die Biomacht/Biopolitik über den Diskurs, die Genealogie und die Gouvernementalität bis hin zum Körper, dem Panoptimus und der Selbstsorge/Selbsttechnologie, um eine kleine Auswahl zu nennen.
Unter dem Stichwort Rezeption wird im fünften Kapitel die Wirkung des Foucaultschen Denkens in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beleuchtet. Neben den klassischen Disziplinen wie zum Beispiel Philosophie, Geschichtswissenschaften, Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie enthält dieses Kapitel auch Aufsätze zur Rezeption Foucaults in der Sportwissenschaft, den Gender Studies und dem Feminismus, den Disability Studies und den Governmentality Studies.
Der Anhang umfasst eine Zeittafel, eine ausführliche Bibliographie der Primärtexte von Foucault und einer – leider etwas kurz geratenen – Auswahlbibliographie von Sekundärtexten, die Autor_innen des Bandes sowie ein Personenregister des Foucault-Handbuches.

In der Vielzahl von Einführungen und einführenden Sammelbänden zu Michel Foucault sticht das Foucault-Handbuch sehr positiv hervor. Es eignet sich, um den Einstieg in das Denken Foucaults zu erleichtern, als parallele Lektüre zu den Primärtexten Foucaults, sowie als Nachschlagewerk und Ausgangspunkt, um tiefer in das Denken Foucaults einzusteigen. Sämtliche Artikel schließen mit einer kurzen Bibliographie der wichtigsten Forschungsbeiträge zum jeweiligen Thema. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Textstellen zum jeweiligen Thema wäre an dieser Stelle sicher auch hilfreich gewesen. Ebenso fehlt dem angehängten Personenregister am Ende eine entsprechendes Sachregister.

Alles in allem finde ich dieses Foucault Handbuch richtig gut. Es steht jetzt schon einige Wochen bei mir im Regal und ich habe wiederholt einzelne Punkte nachgelesen und bin dabei nicht selten hängengeblieben und habe einfach weitergelesen. Den doch stolzen Preis von 49,95 Euro ist es in jedem Fall wert.

29 April, 2009

Foucault über Biomacht und Rassismus

Die Vorlesung vom 17. März 1976 auf einen Blick
(für alle die zu faul sind sie zu lesen):


Wordle: Michel Foucault: Vorlesung vom 17. März 1976


Noch ein Foucault-Wordle: Die Praxis der Freiheit

16 Januar, 2009

Michel Foucault: Die Heterotopien / Der utopische Körper

Michel Foucault: Der utopische Körper / Die Heterotopien. Zwei Radiovorträge. Die Heterotopien und Der utopische Körper sind zwei kurze Radiovorträge Michel Foucaults, die 1966 im Rahmen der Sendung Culture française ausgestrahlt wurden. Der Suhrkamp Verlag hat die beiden Texte 2005 in einer kleinen zweisprachigen Ausgabe aufgelegt. Und für alle, die sich nicht die Mühe machen wollen zu lesen, hat der Verlag eine CD mit den beiden Vorträgen im Orginalton beigelegt. (Nicht dass es Mühe machen würde, diese beiden kurzen Texte zu lesen,). Da das gesprochene Worte nicht bis ins letzte verschriftlicht werden kann, ist das Zuhören eine aufschlussreiche Abwechslung. Wobei es durch mangelnde Sprachkenntnisse durchaus erschwert werden kann. Der Text Raum zum Hören von Daniel Defert widerum ist uneingeschränkt lesenswert.

12 Januar, 2009

Genealogie bei Darwin und Foucault

„Darwin zeigt nicht nur, dass die Natur selbst historisch ist, sondern entwickelt auch eine Methode der Erforschung der Geschichte, die er »genealogisch« nennt, und Foucault folgt ihm darin. [...] Darwin sagt von sich selbst, er sei Genealoge. Er will Herkunft rekonstruieren, aber natürlich, ohne auf »Wappenbücher und Stammbäume«, wie er sagt, zurückgreifen zu können. Deshalb interessiert er sich für Rudimente am Körper, für Spuren der Erinnerung an frühere Formen des Lebens. Bei dieser genealogischen Rekonstruktion zeigt sich, dass es, zum Beispiel, keinen »ursprünglichen« Löwen geben kann. Es gibt nie ein ursprüngliches Wesen, nichts Eigentliches, keine Identität, nur Zerstreuung. Natur ist unendliche Vielfalt und allgegenwärtige Abhängigkeit. Und so geht auch Michel Foucault vor: Er rekonstruiert Herkunftsgeschichte und löst dabei auf, was identisch und »wesenhaft« erscheint. Genealogie ist eine Methode, die Kräfteverhältnisse entdeckt. Sie stößt dabei immer auf Konflikte, nicht auf Harmonie. Doch im Gegensatz zur Hegelschen Geschichtsauffassung, die ja auch von Konflikten ausgeht, hat diese Geschichte kein Ziel, gibt es keine dialektischen Synthesen – und keinen Geist.“ [Philipp Sarasin in der Zeit, 8.01.2009]

Das komplette ZEIT-Interview mit Philipp Sarasin über Darwin vom 8.01.2009
Nichts bleibt je, wie es ist

Der Historiker Philipp Sarasin hat auch ein Buch über Darwin und Foucault geschrieben, das demnächst erscheint: Darwin und Foucault: Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie
Als Vorgeschmack gibts eine planlose Katze, weil ohnehin nichts bleibt wie es ist und am Mittwoch, 14. Januar 2009 in München (LMU, Hgb, HS M218) einen Vortrag über unreine Anfänge im Rahmen der Vorlesungsreihe Anfang und Evolution.

taz-Artikel: Die Katze ohne Plan vom 17.12.2008

30 Dezember, 2008

Das Spiel der Lüste. Sexualität, Identität und Macht bei Michel Foucault. Rezensiert.

Rezensiert von Zara Pfeiffer

Das Spiel der Lüste. Sexualität, Identität und Macht bei Michel Foucault„Je offener das Spiel ist, desto verlockender und faszinierender ist es.“ (Michel Foucault)

Die Frage nach der Identität und Sexualität Michel Foucaults ist ebenso faszinierend wie voyeuristisch. Spiegelt sich das theoretische Spiel der Kräfteverhältnisse seiner Machtanalyse in den konkreten Machtspielen der SM Clubs von San Francisco? Zweifellos ist die Theorie Foucaults nicht von der der Person und dem Leben Michel Foucaults zu trennen, eine einseitige Konzentration auf das Leben unter Vernachlässigung der Theorie würde ihren anfänglichen Reiz jedoch sicher schnell verlieren.
Der Sammelband Das Spiel der Lüste. Sexualität, Identität und Macht bei Michel Foucault herausgegeben von Marvin Chlada und Marc-Christian Jäger widersteht der kurzfristigen Verlockung und stellt die Theorie Michel Foucaults ins Zentrum des Interesses ohne sein Leben auszublenden.

Eröffnet wird „Das Spiel der Lüste“ von Marc-Christian Jäger mit einer umfassenden und nicht nur für Foucault-Neulinge empfehlenswerten Einführung in Michel Foucaults Machtbegriff. Das Fußnoten-Feuerwerk des Textes – 539 auf 45 Seiten – des Textes irritiert beim Lesen bisweilen, enthält aber für interessierte Leser_innen spannende Verweise und Quellenangaben.
Der darauf folgende Abriss Die Sorge um sich selbst von Anette Schlemm zur Frage der Lebenskunst vor dem Hintergrund der Selbstsorge und der foucaultschen Subjektkonstitution ist dagegen leider etwas dünn geraten, was möglicherweise der Kürze des Textes von knapp 4 Seiten geschuldet ist. In dem nicht ganz leicht zu lesenden Beitrag Lüste des Körpers oder Begehren ohne Organe? beschäftigt sich Marvin Chlada mit Foucaults Kritik des Wunschbegriffs wie er unter anderem von Gilles Deleuze und Félix Guattari formuliert wurde: So wie Foucault die Befreiung von der Macht nicht als das Gegenteil, sondern als integralen Bestandteil der Macht begreife, so geht es ihm nicht darum Wunsch und Begehren zu befreien, sondern darum mit Körpern und die Lüsten zu experimentieren und andere Körper und Lüste zu genießen. Jürgen Mümken fragt in Wer bin ich? – Was bin ich? ausgehend von den Begriffen sexuelle Identität, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität nach der Bedeutung von Identität und Geschlecht in den Werken von Max Stirner und Michel Foucault und stellt diese einander gegenüber. In Ordnungen des Sexuellen zeichnet Marc-Christian Jäger vor dem Hintergrund von Foucaults Rezeption von de Sade und Georges Bataille Foucaults Unterscheidung von sadistischer Disziplinarmacht und SM-Subkultur nach. Das Spiel der Lüste endet mit dem Text Vom Begehrens-Subjekt zum unternehmerischen Selbst von Andrea D. Bührmann, in dem diese den Weg vom Begehrens-Subjekt hin zu einem neoliberalen unternehmerischen Selbst nachzeichnet. Bührmann betont, dass der von Foucaults Gouvernementalitätsvorlesungen inspirierte Blick der Governmentality-Studies eine ent-naturalisierende und ent-ontologisierende Perspektive auf gegenwärtige Individualisierungsprozesse und Subjektivierungsweisen ermöglicht.

Die von Foucault aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Sexualität, Identität und Macht wird in Das Spiel der Lüste aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Dass die darin enthaltenen Aufsätze hinsichtlich Länge, Lesbarkeit, Tiefe und Anspruch sehr heterogen sind, ist sowohl Stärke und Schwäche des Bandes, der sich vor allem gut für einen ersten Einstieg in das Denken Michel Foucaults eignet. Anzumerken bleibt außerdem, dass die eigene Lesepraxis durch den wenig strapazierfähigen Umschlag etwas zu deutlich dokumentiert wird.

Marvin Chlada/Marc-Christian Jäger: Das Spiel der Lüste. Sexualität, Identität und Macht bei Michel Foucault, Alibri Verlag, Aschaffenburg, 2008. 156 Seiten, 16,- Euro. ISBN 3-86569-031-9

07 Dezember, 2008

Debatte Foucault vs Chomsky

Macht und Gerechtigkeit. Ein Streitgespräch zwischen Michel Foucault und Noam ChomskyDie Debatte zwischen Michel Foucault und Noam Chomsky aus dem Jahr 1971, die von Fons Elders moderiert und im niederländischen Fernsehen unter dem Titel „Über die Natur des Menschen: Gerechtigkeit versus Macht“ ausgestraht wurde, ist jetzt von orange press unter dem Titel „Macht und Gerechtigkeit. Ein Streitgespräch zwischen Michel Foucault und Noam Chomsky“ veröffentlicht worden.

Die Behauptung „orange-press legt dieses eindrucksvolle Dokument neuerer Philosophiegeschichte nun zum ersten Mal auf Michel Foucault: Dits et Ecrits II
Deutsch vor“ stimmt allerdings nicht ganz (umso enttäuschender, wenn diese einfach abgeschrieben wird, wie von Adi Quarti in der ak). Da hat man sich wohl die Mühe gespart, die „Dits et Ecrits“ von Foucault durchzublättern, die auf deutsch im Suhrkamp Verlag erschienen sind. Im zweiten Band unter der Nummer 132 kann das Gespräch der beiden ebenfalls nachgelesen werden (und das schon seit 2002!). Naja. Einfacher als die „Dits et Ecrits“ zu stemmen (und auch billiger) ist die Ausgabe von orange press aber allemal und lesen - egal wo - lohnt sich. Versprochen.

Und wer das ganze nicht nur lesen, sondern auch mal sehen will, kann das hier.

23 August, 2008

Der Foucaultsche Werkzeugkasten

Das erste Kapitel aus meiner Magisterarbeit [Die Machtsysteme demontieren ... Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität]

„Ich könnte Ihnen sagen ..." [1]

Im Krebsgang …
Foucaults Werk wird häufig als fragmentarisch, wenn nicht sogar als zerrissen und widersprüchlich beschrieben und auch Foucault selbst bestätigt, dass dieser Eindruck entstehen kann. Am 31. Januar 1979, während einer Vorlesung am Collège de France, sagt er zu seinem methodischen Vorgehen: „[…] denn, wie Sie wissen, bin ich wie ein Krebs, ich bewege mich seitwärts […].“[2] Dies macht es in der Tat manchmal nicht ganz einfach, einen roten Faden zu finden. Aus der Nähe betrachtet, wirken seine Bücher manchmal wie unzusammenhängende Spuren. Statt sich aufeinander zu beziehen, scheinen sie beziehungslos nebeneinander zu stehen und sich bisweilen sogar zu widersprechen. Fink-Eitel geht in seiner Einführung zu Foucault sogar so weit, zu bemerken, dass man, wenn man es nicht wüßte, die Bücher Foucaults „[…] für die Werke verschiedener Autoren halten könnte […].“[3] Während der Vorlesung vom 7. Januar 1976 erklärt Foucault diesen Eindruck folgendermaßen:

„Was mich betrifft, so kam ich mir wie ein Fisch vor, der aus dem Wasser hochspringt und auf der Oberfläche eine kleine, kurze Schaumspur hinterläßt und der glauben machen will oder glauben möchte oder vielleicht tatsächlich selbst glaubt, daß er weiter unten, dort, wo man ihn nicht mehr sieht, wo er von niemandem bemerkt oder kontrolliert wird, einer tieferen, kohärenteren, vernünftigeren Bahn folgt.“
[4]

Tatsächlich sind Foucaults Bücher mehr als nur Fragmente, es gibt einen roten Faden, der sich durch sein Werk zieht, auch wenn dieser nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen ist. Um die Bahn, der er folgt, sehen zu können, ist es allerdings notwendig, aus einiger Entfernung auf die Schaumspur zu blicken, die seine einzelnen Bücher hinterlassen haben. Dass sich Foucaults Schwerpunktsetzungen und theoretische Positionen im Laufe der Jahre verschieben, ist weniger ein Indiz dafür, dass sein Vorgehen und seine Positionen inkohärent sind, als Zeichen einer fortwährenden Entwicklung. Er schwimmt nicht auf der Stelle, sondern er folgt unter der Oberfläche einer Bahn, was an den Schaumspuren, die seine Bücher hinterlassen, sichtbar wird. Seinen Kritikern stellt er die Frage: „Glauben Sie, dass ich während all dieser Jahre so viel gearbeitet habe, um dasselbe zu sagen und nicht verwandelt zu werden?“
[5] Und in einem Gespräch mit Rux Martin vom Oktober 1982 bemerkt er:

„Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war. Wenn Sie ein Buch beginnen und wissen schon am Anfang, was Sie am Ende sagen werden, hätten Sie dann noch den Mut, es zu schreiben? Was für das Schreiben gilt und für eine Liebesbeziehung, das gilt für das Leben überhaupt. Das Spiel ist deshalb lohnend, weil wir nicht wissen, was am Ende dabei herauskommen wird.“
[6]

Versucht man sein Gesamtwerk vor diesem Hintergrund zu systematisieren, dann erscheint es schlüssig, es in verschiedene chronologisch aufeinanderfolgende Phasen einzuteilen: die Archäologie in den 1960er Jahren, die Genealogie in den 1970er Jahren und die Subjekttheorie in den 1980er Jahren.[7] Während der archäologischen Phase entwickelt Foucault seine Diskurstheorie und konzentriert sich auf die Analyse diskursiver Formationen. Im Zentrum seiner Analysen steht die Aussage, ihre politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen vernachlässigt er. Diese treten während der genealogischen Phase in den Vordergrund, während der Foucault sich auf die Analyse der Machtmechanismen und ihr Verhältnis zu den Wissensformen konzentriert. Während der subjekttheoretischen Phase befasst er sich schließlich mit der Ethik des Selbst: Subjektivierungsformen, Selbstführungskonzepte und das Verhältnis von Macht und Subjektivität rücken während dieser Phase in den Mittelpunkt seines Interesses.
Ordnet man die zu Lebzeiten veröffentlichten Hauptwerke Foucaults den jeweiligen Phasen zu, dann gehören Wahnsinn und Gesellschaft
[8], Die Geburt der Klinik[9], Die Ordnung der Dinge[10] und die Archäologie des Wissens[11] zur archäologischen oder diskurstheoretischen Phase. Das aus der Antrittsvorlesung Foucaults am 2. Dezember 1970 anlässlich seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Geschichte der Denksysteme am Collège de France hervorgegangene Buch Die Ordnung des Diskurses[12] bildet den Übergang von der archäologischen zur genealogischen Phase und ordnet sich folglich zwischen diese beiden Phasen ein. Überwachen und Strafen[13] und der erste Band von Sexualität und Wahrheit, Der Wille zum Wissen[14], sind der genealogischen oder machtanalytischen Phase zuzuordnen und die Bände zwei und drei von Sexualität und Wahrheit, Der Gebrauch der Lüste[15] und Die Sorge um sich[16], der Subjekttheorie und der Ethik des Selbst.[17]
Der theoretische Bruch, der häufig zwischen der Machtanalytik der zweiten Phase und der Subjekttheorie der dritten Phase konstatiert wird und der auf der Annahme beruht, dass sich Foucaults Machtanalytik selbst in eine Sackgasse manövriert hat und Foucault diese deshalb verworfen und das theoretische Feld hin zur Subjekttheorie gewechselt hat, ist ungenau. Fink-Eitel irrt sich, wenn er schreibt: „Die Machttheorie sitzt in dem Käfig fest, den sie sich selbst gebaut hat [...].“[18] Die Schlussfolgerung von Lemke, dass Foucaults Beschäftigung mit den Subjektivierungsprozessen Ergebnis und Konsequenz seiner Auseinandersetzung mit den Machtpraktiken und als deren Erweiterung aufzufassen ist, erscheint dagegen überzeugender.[19]
Lässt man Foucault die Entwicklung der Themen und Fragestellungen, welche seiner theoretischen Arbeit zugrunde liegt, rückblickend selbst beschreiben, dann erscheint diese durchaus kohärent:

„Bisher habe ich drei traditionelle Probleme untersucht: 1. Welches Verhältnis haben wir zur Wahrheit durch wissenschaftliche Erkenntnis, zu jenen 'Wahrheitsspielen', die so große Bedeutung in der Zivilisation besitzen und deren Subjekt und Objekt wir gleichermaßen sind? 2. Welches Verhältnis haben wir aufgrund dieser seltsamen Strategien und Machtbeziehungen zu den anderen? 3. Welche Beziehungen bestehen zwischen Wahrheit, Macht und Subjekt? Ich möchte all das mit einer Frage beschließen: Was könnte klassischer sein als diese Fragen und systematischer als der Weg von Frage eins über Frage zwei zu Frage drei und zurück zu Frage eins. Genau an diesem Punkt bin ich jetzt.“
[20]



… mit Hilfe der Genealogie …
Foucault entwickelt keinen eigenständigen und einheitlichen Theorieapparat, von dem ausgehend er sich seinen Untersuchungsgegenständen nähert. Mit der Archäologie und der Genealogie entwirft er zwar zwei zentrale Untersuchungsmethoden, allerdings sind diese eher als übergeordnete Herangehensweisen aufzufassen, die er gegebenenfalls an seine Untersuchungsgegenstände anpasst. So sagt er selbst: „Ich habe keine Methode, die ich unterschiedslos auf verschiedene Bereiche anwende.“[21] Stattdessen entwickelt er seine Analyseinstrumente immer in Bezug auf die jeweiligen Objekte, die er untersucht, da, wie er meint,

„[…] keine Methode um ihrer selbst willen eingesetzt werden darf.“
[22] Mit dem Diskurs untersucht er den Wahnsinn, mit dem Dispositiv die Delinquenz, die Sexualität anhand der Macht/Wissen-Komplexe und den Staat mit Hilfe der Gouvernementalität.[23]

„Ich taste mich voran und fabriziere nach besten Kräften Instrumente, die Objekte sichtbar machen sollen. Ein wenig sind diese Objekte durch die guten oder schlechten Instrumente bestimmt, die ich da fabriziere. Und sie sind falsch, wenn meine Instrumente falsch sind... Ich versuche, meine Instrumente über die Objekte zu korrigieren, die ich damit zu entdecken glaube, und dann zeigt das korrigierte Instrument, dass die von mir definierten Objekte nicht ganz so sind, wie ich gedacht hatte. So taste ich mich voran oder stolpere von Buch zu Buch.“
[24]
Dass Foucault seine Analyseinstrumente an den von ihm untersuchten Objekten ausrichtet, bedeutet jedoch nicht, dass er diese Objekte zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen macht. Im Gegenteil, er untersucht die Geschichte des Wahnsinns, des Staates, der Delinquenz oder der Sexualität, indem er von deren Nicht-Existenz ausgeht. Foucault befragt den Wahnsinn oder den Staat nicht nach ihrer Geschichte oder Entwicklung, sondern er fragt nach den Bedingungen und Praktiken, die diese als Objekte konstituiert haben. Statt Universalien[25] wie den Staat oder den Wahnsinn als Raster zu nehmen, in das sich konkrete Praktiken einordnen lassen, nimmt er die konkreten Praktiken als Raster, in das er die Universalien einordnet.[26] Er sagt nicht, angenommen der Wahnsinn oder der Staat existieren, wie ist ihre Geschichte, wie hat sich ihr Erscheinungsbild im Laufe der Zeit verändert. Er sagt statt dessen:

„Angenommen, der Wahnsinn existiert nicht. Was ist dann die Geschichte, die man anhand dieser verschiedenen Ereignisse, dieser verschiedenen Praktiken schreiben kann, die sich anscheinend um diese unterstellte Sache, den Wahnsinn, gruppieren?“
[27]

Dies bedeutet nicht, dass es sich bei den Phänomenen, auf die sich der Begriff Wahnsinn bezieht, um bloße Trugbilder handelt. Mit der Feststellung, der Wahnsinn existiere nicht, möchte Foucault weniger die Existenz der Phänomene, die als Wahnsinn bezeichnet werden, leugnen, sondern vielmehr den dem Wahnsinn unterstellten universellen Charakter zurückweisen. Es geht Foucault aber um mehr als die bloße Feststellung, dass sich das Erscheinungsbild und die Wahrnehmung von Universalien wie beispielsweise dem Wahnsinn mit der Zeit verändern können, es geht ihm darum, die Bedingungen zu erkennen, „[…] die es den Regeln des Wahr- oder Falsch-Sagens folgend erlauben, ein Subjekt als geisteskrank zu erkennen […]“
[28] und „[…] die Bewegung zu erfassen, mit deren Hilfe […] sich ein Wahrheitsfeld mitsamt der Wissensgegenstände bildete.“[29]
Diese Vorgehensweise ist ein Teil der Foucaultschen Genealogie, die er in Anlehnung an Nietzsches Genealogie der Moral[30] entwickelt. Mit dem allgemeinen Verständnis von Genealogie im Sinne von Abstammungs- oder Verwandtschaftslehre hat diese jedoch nur sehr entfernt etwas zu tun.[31] Die Genealogie Foucaults beschäftigt sich in erster Linie mit den äußeren Bedingungen und den sozialen Praktiken, die den Diskurs ermöglichen. Im Zentrum des genealogischen Interesses befindet sich im Gegensatz zur Archäologie, die sich vor allem mit den immanenten Regeln des Diskurses im Rahmen der Sprache und Zeichen befasst, die Frage nach den Machtverhältnissen.
Wie Foucault während der Vorlesung vom 8. Februar 1978 darlegt, besteht das Vorgehen der genealogischen Analyse darin, aus der Institution herauszutreten und die Machtbeziehungen ausgehend von den Technologien und Strategien zu analysieren.

„Eine derartige Methode besteht im Grunde genommen darin, hinter die Institution zu gelangen, um hinter ihr […] das wiederzufinden, was man eine Machttechnologie nennen kann. Gerade von da her macht es diese Analyse möglich, […] eine genealogische Analyse, die ein ganzes Geflecht von Bündnissen, Verbindungen, Stützpunkten rekonstruiert. […] Man muß aus der Institution heraustreten, um sie durch den globalen Gesichtspunkt der Machttechnologie zu ersetzen.“
[32]

Das heißt, um den Wahnsinn zu verstehen, genügt es nicht, die Psychiatrie von innen heraus zu untersuchen, sondern es ist notwendig, sie im Verhältnis zum Außenraum der Gesellschaft zu analysieren. Ebensowenig ist es ausreichend, die innere Funktion der Psychiatrie zu untersuchen, stattdessen muss analysiert werden, in welche äußeren Strategien und Taktiken sie eingebettet ist.
Foucault bezeichnet die Genealogie auch als Anti-Wissenschaft, die den absoluten Wahrheitsanspruch der Wissenschaften kritisieren und deren Hierarchisierungen und Machtwirkungen unterlaufen soll. Die Genealogie bringt die unterdrückten und nicht-qualifizierten Wissensarten wie beispielsweise das Wissen der Kranken, das Wissen der Psychiatrisierten und das Wissen der Delinquenten ins Spiel und führt sie gegen das anerkannte Wissen der Wissenschaft ins Feld.

„Die Genealogie wäre somit […] eine Art Versuch, die historischen Wissensarten aus der Unterwerfung zu befreien, d. h. sie fähig zum Widerstand und zum Kampf gegen den Zwang eines theoretischen, einheitlichen, formalen und wissenschaftlichen Diskurses zu machen. Aktivierung der lokalen [...] Wissensarten gegen die wissenschaftliche Hierarchisierung des Wissens und die ihr innewohnenden Machtwirkungen: genau das ist die Absicht dieser ungeordneten und fragmentarischen Genealogien.“
[33]

Den Wahrheitsanspruch der Wissenschaften in Frage zu stellen bedeutet auch, dass die Genealogie nicht nach einem Ursprung sucht, da die Suche nach dem Ursprung immer auch eine Suche nach dem Ort der Wahrheit ist. Die Genealogie sucht statt dessen nach der Entstehung und der Herkunft. Dabei geht es weder darum, die Geschichte von einem Endpunkt aus zu erklären, noch eine Kontinuität zwischen der Abfolge von Ereignissen herzustellen. Im Gegenteil, die Suche nach der Entstehung und der Herkunft ist der Suche nach dem Ursprung entgegengesetzt. Sie soll die Kontinuität und Kohärenz auflösen und die Zufälligkeiten, Abweichungen, Irrtümer und Richtungswechsel der Ereignisse aufzeigen. „Die Erforschung der Herkunft schafft keine sichere Grundlage; sie erschüttert, was man für unerschütterlich hielt; sie zerbricht, was man als eins empfand; sie erweist als heterogen, was mit sich übereinzustimmen schien.“[34] Die Entstehung ist nicht wie der Ursprung ein Ort der Wahrheit und Begründung, von dem ausgehend eine kontinuierliche Entwicklung gezeichnet wird. Entstehung meint statt dessen das zufällige Auftauchen innerhalb eines zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen Kräftefeldes. Die Analyse der Entstehung hat das Ziel, dieses Kräftefeld, das sie hat auftauchen lassen, sichtbar zu machen.[35]
Der Genealogie geht es nicht darum, die Wahrheit, das Wesen oder den Kern der Dinge zu entdecken, sondern darum, aufzudecken, dass es eine solche Wahrheit nicht gibt, dass die Dinge kein Wesen und keinen Kern besitzen. Sie sucht nicht nach einer sinnstiftenden Begründung als Bedingung unserer Existenz, indem sie versucht, den Ursprung und die Einheit unserer Identität nachzuzeichnen. Vielmehr versucht sie, die Kontingenz und die Zufälligkeit unserer gegenwärtigen Existenz aufzuzeigen. „[...] es heißt entdecken, dass an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit liegt und auch nicht das Sein, sondern die Äußerlichkeit des Zufalls.“
[36] Statt einen kontinuierlichen Bogen zwischen einem vorgestellten Ursprung und der Gegenwart zu spannen, zerbricht die Genealogie die von der Geschichtsschreibung konstruierte kontinuierliche Entwicklung unserer Existenz. Sie löst die Einheit unserer Identität auf und verweist auf die Brüche und Diskontinuitäten unserer Herkunft und Entstehung.
Die Genealogie beschäftigt sich mit der Konstitution von Wissen, Diskursen und Dingen, vermeidet gleichzeitig aber, sich auf ein konstituierendes Subjekt zu beziehen:

„[…] das heißt, man muss zu einer Analyse gelangen, die der Konstitution des Subjekts in der historischen Verlaufsform Rechnung tragen könnte. Und das ist das, was ich Genealogie nennen würde, das heißt eine Form von Geschichte, die der Konstitution der Wissensarten, der Diskurse, der Gegenstandsbereiche usw. Rechnung trägt, ohne sich auf ein Subjekt beziehen zu müssen […].“
[37]

Indem die Genealogie ein konstituierendes Subjekt verwirft und statt dessen das Subjekt selbst als konstituiert beschreibt, macht sie nicht nur deutlich, dass wir nicht zwangsläufig das sein müssen, was wir gegenwärtig sind. Sie führt uns damit auch die Freiheit vor Augen, uns zu verändern. Die Genealogie „[…] wird vielmehr aus der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit herauslösen, nicht mehr das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken.“[38]



… die Machtverhältnisse demontieren
Die Genealogie liefert keinen Ursprung und keine Wahrheit, sie sucht nicht nach dem Wesen der Dinge, sie durchbricht die kontinuierliche Abfolge geschichtlicher Ereignisse und verabschiedet sich vom erkennenden Subjekt. Die Genealogie untersucht die Macht- und Kräfteverhältnisse, in denen sich die Diskurse formieren, sie betont die Diskontinuität und Zufälligkeit der Ereignisse und verweist auf die Brüche, die unsere Identität durchziehen.
Bezugs- und Ausgangspunkt einer genealogischen Untersuchung ist für Foucault immer die Gegenwart. „Genealogie heißt, dass ich die Analyse von einer gegenwärtigen Frage aus betreibe.“
[39] Eine gegenwärtige Fragestellung oder ein gegenwärtiges Problem als Ausgangs- und Bezugspunkt für eine genealogische Untersuchung zu nehmen bedeutet jedoch nicht, die gegenwärtige Realität auch als End- oder Zielpunkt zu setzen, auf den sich die geschichtlichen Ereignisse in einer teleologischen Entwicklung ausgerichtet haben. Das Gegenteil ist der Fall. Die Genealogie will zeigen, dass das, was ist, nicht notwendigerweise so sein muss, wie es jetzt ist, sondern nur eine von vielen unterschiedlichen Möglichkeiten darstellt. Indem sie aufzeigt, dass die historische Entwicklung weniger eine logische Abfolge, sondern vielmehr eine zufällige Verkettung von Ereignissen darstellt, verweist sie auf die Kontingenz der Verhältnisse, in denen wir aktuell leben. In dem Gespräch mit Rux Martin vom Oktober 1982 sagt Foucault folgendes:
„Ich möchte zeigen, dass viele Dinge, die Teil unserer Landschaft sind – und für universell gehalten werden –, das Ergebnis ganz bestimmter geschichtlicher Veränderungen sind. Alle meine Untersuchungen richten sich gegen den Gedanken universeller Notwendigkeiten im menschlichen Dasein. Sie helfen entdecken, wie willkürlich Institutionen sind, welche Freiheit wir immer noch haben und wie viel Wandel immer noch möglich ist.“
[40]
Indem sie das Fundament des gegenwärtig allgemein anerkannten Wissens untergräbt, ist die Foucaultsche Genealogie somit immer auch eine Möglichkeit, die gegenwärtige Realität zu hinterfragen und zu kritisieren. Dass sich Foucault mit seinen Untersuchungen gegen die Vorstellung von universellen Notwendigkeiten und Wahrheiten wendet, ist kein Zufall, sondern das Prinzip, nach dem er seine gesamte Arbeitsweise organisiert und das Ziel, auf das er seine Untersuchungen ausrichtet. Kritik an den gegebenen Machtverhältnissen zu üben ist für Foucault Antrieb zu schreiben.[41] Aus diesem Grund ist es für ihn und für das Verständnis seiner Arbeiten wichtig, dass sich sein Denken immer auch rückkoppelt mit konkreten politischen Kämpfen. Foucault ist nicht nur Wissenschaftler oder Philosoph, er ist auch politischer Aktivist. Wenn er es für notwendig erachtet, bezieht er politisch Stellung. So ist er beispielsweise Anfang der 1970er Jahre in der Gruppe Gefängnis-Information aktiv, die sich mit der Organisation von Demonstrationen und Pressekonferenzen und der Veröffentlichung von Artikeln kritisch zur Institution Gefängnis positioniert.[42] In einem Interview sagt er zu der Ausrichtung dieser Aktivitäten:

„Wenn man das Bewusstsein der Menschen verändern wollte, bräuchte man nur Zeitschriften und Bücher zu publizieren und einen Radio- oder Fernsehproduzenten für seine Ideen zu gewinnen. Wir wollen aber die Institution angreifen [...]. Wir wollen diese gelebte Ideologie über die dichte institutionelle Schicht verändern, in der sie sich eingenistet und auskristallisiert hat und in der sie sich reproduziert. Vereinfacht könnte man sagen, der Humanismus will das ideologische System ändern, ohne die Institution anzurühren; der Reformismus will die Institution ändern, ohne das ideologische System anzurühren. Revolutionäre Aktion bedeutet dagegen gleichzeitige Erschütterung des Bewusstseins und der Institution; und dazu muss sie die Machtverhältnisse angreifen, deren Werkzeug, Waffe und Panzer sie sind.“
[43]

Diese politischen Aktivitäten haben seine wissenschaftlichen Fragestellungen ebenso beeinflusst, wie seine wissenschafltichen Arbeiten von seinen politischen Interventionen beeinflusst sind. Eins zu eins übersetzen lassen sich das Denken und Handeln Foucaults allerdings nicht. Trotz der vorhandenen Brüche und Widersprüche bleibt Foucault aber sowohl wissenschaftlich als auch politisch seiner Grundeinstellung treu, unbequeme Fragen zu stellen und das anerkannte Wissen und die gegenwärtigen Machtsysteme auch gegen Widerstand zu kritisieren.[44] Foucault geht es dabei auch immer darum, herrschende Gewissheiten in Frage zu stellen und aufzudecken, wie diese entstehen und wirken, sowie neue Denkräume zu erschließen, ohne diese gleichzeitig mit abschließenden Antworten in Besitz zu nehmen.[45] Und wenn er es als notwendig erachtet, zögert er nicht, auch seine eigenen früheren Aussagen und Positionierungen zu revidieren.[46] Ziel seiner Arbeit ist immer, Machtsysteme zu analysieren, um ihr Funktionieren besser verstehen zu können und auf dieser Basis Werkzeuge zu entwickeln, mit deren Hilfe diese Machtsysteme demontiert werden können. Foucault bezeichnet sich selbst als Kartographen und Richtungsanzeiger, als Planzeichner, Rezeptaussteller, Werkzeughändler und Waffenschmied.[47]

„Alle meine Bücher ..."
[48]

[zara pfeiffer]

[1] Foucault, Michel: Historisches Wissen der Kämpfe und Macht. Vorlesung vom 7. Januar 1976, in: Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve, 1978, S. 56. Siehe auch Michel Foucault: Vorlesung vom 7. Januar 1976, Dits et Ecrits III, Nr. 193, S. 214.
[2] Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 116.
[3] Vgl. Fink-Eitel, Hinrich: Michel Foucault zur Einführung, 3. durchges. Aufl., Hamburg: Junius, 1997, S. 10
[4] Foucault: Historisches Wissen der Kämpfe und Macht, 1978, S. 56. Siehe auch Michel Foucault: Vorlesung vom 7. Januar 1976, Dits et Ecrits III, Nr. 193, S. 214.
[5] Foucault, Michel: Michel Foucault, interviewt von Stephen Riggins, Dits et Ecrits IV, Nr. 336, S. 653.
[6] Foucault, Michel: Wahrheit, Macht, Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault (25. Oktober 1982), Dits et Ecrits IV, Nr. 362, S. 960.
[7] Fink-Eitel erwähnt noch eine vierte Phase, welche er in den 1950er Jahren verortet und in der Foucault eine von Heidegger inspirierte Philosophie vertritt. Vgl. Fink-Eitel: Michel Foucault zur Einführung, 1997, S. 103. Andere Autoren wiederum verzichten darauf, diese Zeit Foucaults Denkens als Phase gleichberechtigt neben die Archäologie, die Genealogie und die Subjekttheorie zu stellen. Vgl. Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge, Paderborn: Wilhelm Fink, 2007, S. 53.
[8] Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969.
[9] Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, 6. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer, 2002.
[10] Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974.
[11] Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981.
[12] Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, München: Hanser, 1974.
[13] Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977.
[14] Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Erster Band, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983.
[15] Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit. Zweiter Band, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989.
[16] Foucault, Michel: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit. Dritter Band, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989.
[17] Vgl. Ruoff: Foucault-Lexikon, 2007, S. 21ff.
[18] Fink-Eitel: Michel Foucault zur Einführung, 1997, S. 102.
[19] Vgl. Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Berlin/Hamburg: Argument, 1997, S. 29.
[20] Foucault: Wahrheit, Macht, Selbst, Dits et Ecrits IV, Nr. 362, S. 965f.
[21] Foucault: Macht und Wissen, Dits et Ecrits III, Nr. 216, S. 521f.
[22] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 179.
[23] Vgl. Lemke, Thomas: Geschichte und Erfahrung. Michel Foucault und die Spuren der Macht, in: Michel Foucault: Analytik der Macht, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Auswahl und Nachwort von Thomas Lemke, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S. 320.
[24] Foucault: Macht und Wissen, Dits et Ecrits III, Nr. 216, S. 521f.
[25] Foucault stützt sich hier auf das Geschichtsverständnis von Paul Veyne und dessen Überlegungen über historische Universalien. Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, Dits et Ecrits III, Nr. 274, S. 1020.
[26] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 15; laut Daniel Defert notiert Foucault am 7. Januar 1979: „Die Universalien nicht dem Hobel der Geschichte überlassen, sondern die Geschichte anhand eines Denkens aufrollen, das die Universalien verwirft. Aber welche Geschichte?“ Defert, Daniel: Zeittafel, in: Daniel Defert et al. (Hg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band I. 1954-1969, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S. 89.
[27] Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 16.
[28] Foucault: Foucault, Dits et Ecrits IV, Nr. 345, S. 780.
[29] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 177.
[30] Vgl. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. durchgesehene Aufl., München: dtv, 1988.
[31] In seinem Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie entwickelt Foucault 1971 erstmals eine systematische Darstellung der genealogischen Methode. Vgl. Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, Dits et Ecrits II, Nr. 84, S. 166-191.
[32] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 175f.
[33] Foucault: Historisches Wissen der Kämpfe und Macht, 1978, S. 64f. Siehe auch Foucault, Michel: Vorlesung vom 7. Januar 1976, Dits et Ecrits III, Nr. 193, S. 221.
[34] Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, Dits et Ecrits II, Nr. 84, S. 173.
[35] Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, Dits et Ecrits II, Nr. 84, S. 174f.
[36] Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, Dits et Ecrits II, Nr. 84, S. 172.
[37] Foucault, Michel: Gespräch mit Michel Foucault, Dits et Ecrits III, Nr. 192, S. 195.
[38] Foucault, Michel: Was ist Aufklärung, Dits et Ecrits IV, Nr. 339, S. 702f.
[39] Foucault, Michel: Die Sorge um die Wahrheit, Dits et Ecrits IV, Nr. 350, S. 831.
[40] Foucault: Wahrheit, Macht, Selbst, Dits et Ecrits IV, Nr. 362, S. 961.
[41] Vgl. Foucault, Michel: Die fröhliche Wissenschaft des Judos. Ein Gespräch mit Jean-Louis Ezine, in: Michel Foucault, Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin: Merve, 1976, S. 129. Siehe auch Foucault, Michel: Auf dem Präsentierteller, Dits et Ecrits II, Nr. 152, S. 894f.
[42] Die Gruppe Gefängnis-Information war ein Kreis von Intellektuellen, dem u. a. auch Jean-Marie Domenach, Pierre Vidal-Naquet, Daniel Defert, Gilles Deleuze, Jacques Donzelot, Robert Castel und Jacques Rancière angehörten. Vgl. Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft, 1997, S. 62ff.
[43] Foucault, Michel: Jenseits von Gut und Böse, Dits et Ecrits II, Nr. 98, S. 283.
[44] Foucaults politische Aktivitäten beschränken sich nicht auf die Gruppe Gefängnis-Information. Unter anderem unterstützt er die polnische Gewerkschaft Solidarność, beteiligt sich an antirassistischen Initiativen, kämpft für das Recht auf Asyl und setzt sich für die sexuelle Selbstbestimmung Homosexueller ein. Vgl. Lemke: Geschichte und Erfahrung. Michel Foucault und die Spuren der Macht, 2005, S. 326.
[45] Vgl. Ewald, François: Foucault – Ein vagabundierendes Denken, in: Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wahrheit und Wissen, Berlin: Merve, 1978, S. 7f.
[46] Diese Bereitschaft Foucaults, seine Positionen gegebenenfalls zu revidieren, hat bezüglich seiner politischen Positionierung bisweilen ebenso für Verwirrung gesorgt wie manche Brüche zwischen seinem theoretischen Denken und seinem politischen Handeln. So gibt es höchst unterschiedliche Einschätzungen, welcher politischen Richtung Foucault zuzuordnen ist. Vgl. Schäfer, Velten: Links handeln und rechts denken? Zur Diskussion um Foucaults politische Heimat, in: Marvin Chlada/Gerd Dembowski (Hg.): Das Foucaultsche Labyrinth. Eine Einführung, Aschaffenburg: Alibri, 2002, S. 18-26.
[47] Vgl. Foucault: Die fröhliche Wissenschaft des Judo, 1976, S. 129. Siehe auch Foucault: Auf dem Präsentierteller, Dits et Ecrits II, Nr. 152, S. 895.
[48] Foucault, Michel: Von den Martern zu den Zellen. Ein Gespräch mit Roger-Pol Droit, in: Michel Foucault: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin: Merve, 1976, S. 53. Siehe auch Foucault, Michel: Von den Martern zu den Zellen, Dits et Ecrits II, Nr. 151, S. 887f.

14 August, 2008

Die Gouvernementalität

Foucault verwendet den Begriff Gouvernementalität erstmals gegen Ende der Vorlesung vom 1. Februar 1978.[1] Die Erklärung, was er mit diesem, wie er später selbst sagt, „häßlichen Wort“[2] bezeichnet, gliedert er in drei sich aufeinander beziehende Teile:

„Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. Zweitens verstehe ich unter 'Gouvernementalität' die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den man als 'Regierung' bezeichnen kann, gegenüber allen anderen – Souveränität, Disziplin – geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zur Folge gehabt hat. Schließlich glaube ich, dass man unter Gouvernementalität den Vorgang oder eher das Ergebnis des Vorgangs verstehen sollte, durch den der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalters, der im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat geworden ist, sich Schritt für Schritt 'gouvernementalisiert' hat.“[3]

Ein spezifisches Machtsystem ebenso wie die historische Entwicklung, in deren Verlauf der zu diesem Machtsystem gehörige Machttypus – die Regierung – zur dominierenden Form der Machtausübung geworden ist, das ist es, was Foucault an dieser Stelle der Vorlesungsreihe von 1978 unter Gouvernementalität versteht. Das Machtsystem, von dem Foucault spricht, besteht aus komplexen Regierungstaktiken und -institutionen, welche die Bevölkerung als Ziel, die politische Ökonomie als Wissensform und die Sicherheitsdispositive als Instrument haben. Es konnte sich im 18. Jahrhundert installieren und damit die Regierung gegenüber der Souveränität und der Disziplin als dominanten Machttypus durchsetzen. weiterlesen
[zara pfeiffer]



[1] Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 162. Der Begriff „Gouvernementalität“ ist allerdings keine Neuschöpfung Foucaults. Roland Barthes verwendet den Begriff Gouvernementalität bereits 1964 in seinem Buch Mythen des Alltags. Vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003.
[2] Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 173.
[3] Foucault: Die ‚Gouvernementalität’, Dits et Ecrits III, Nr. 239, S. 820f; vgl. auch: Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 162. Aus Gründen der besseren Verständlichkeit wurde an dieser Stelle auf die Übersetzung in den Dits et Ecrits zurückgegriffen.

die sicherheitsdispositive

Insgesamt unterscheidet Foucault drei verschiedene Machttechnologien: die juridischen oder rechtlichen Mechanismen, die Disziplinarmechanismen und die Sicherheitsmechanismen. Diese ordnet er drei entsprechenden Staatsformen und deren Organisationsprinzipien zu: erstens, die juridischen Mechanismen dem mittelalterlichen Gerechtigkeitsstaat, der nach dem Prinzip der Souveränität organisiert ist; zweitens, die Disziplinarmechanismen dem Verwaltungsstaat des 16. und 17. Jahrhunderts, der nach dem Prinzip der Staatsräson und der Polizei organisiert ist und drittens, die Sicherheitsmechanismen dem Regierungsstaat, der sich ab dem 18. Jahrhundert entwickelt und der nach dem Prinzip der Gouvernementalität organisiert ist.
Die unterschiedliche Funktionsweise dieser Machtmechanismen verdeutlicht Foucault an Hand der verschiedenen Reaktionen auf und Behandlungen von Krankheiten im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert. Während die Leprakranken im Mittelalter mit Hilfe von Gesetzen und Verordnungen ausgeschlossen wurden, wurden im 16. und 17. Jahrhundert von der Pest betroffene Regionen mittels Kontrolle und Überwachung diszipliniert, um eine Ausdehnung auf andere Gebiete zu unterbinden. Die Sicherheitsmechanismen operieren dagegen vor allem mittels Wahrscheinlichkeiten auf der Grundlage von Statistiken. Bei der Behandlung der Pocken im 18. Jahrhundert ging es in erster Linie darum, statistisches Wissen über die Bevölkerung zu sammeln und mit Hilfe der Impfpraktiken die Epidemie einzudämmen.[1] Die rechtlichen Mechanismen oder die Souveränität funktionieren folglich über Gesetze und Verbote, die Disziplin über Kontrolle und Überwachung und die Sicherheitsdispositive über die Regulierung von Wahrscheinlichkeiten:

„Anders gesagt, das Gesetz verbietet, die Disziplin schreibt vor, und die Sicherheit hat - ohne zu untersagen und ohne vorzuschreiben, wobei sie sich eventuell einiger Instrumente in Richtung Verbot und Vorschrift bedient - die wesentliche Funktion, auf eine Realität zu antworten, so daß diese Antwort jene Realität aufhebt, auf die sie antwortet - sie aufhebt oder einschränkt oder bremst oder regelt.“[2]

Obwohl Foucault den einzelnen Machtmechanismen ihre jeweiligen Gegenstände – den juridischen Mechanismen das Territorium, den disziplinarischen Mechanismen die individuellen Körper und den Sicherheitsmechanismen die Gesamtheit der Bevölkerung – zuordnet und sie in eine zeitliche Abfolge zueinander bringt, betont er gleichzeitig, dass eine strikte Trennung und zeitliche Zuordnung dieser Mechanismen zu schematisch und folglich auch zu ungenau ist. Stattdessen handelt es sich bei den verschiedenen Machtmechanismen um „eine Serie komplexer Gefüge“[3], bei der sich mit der Zeit vor allem „[...] die Dominante oder genauer das Korrelationssystem zwischen den juridisch-rechtlichen Mechanismen, den Disziplinarmechanismen und den Sicherheitsmechanismen“[4] verändert. Die juridischen und disziplinarischen Mechanismen werden von den Sicherheitsmechanismen folglich nicht verdrängt. Im Gegenteil, im Zuge der Sicherheitsdispositive kommt es zu einer regelrechten Zunahme rechtlicher Regulierungen und disziplinarischer Maßnahmen.
Auf Grundlage der Unterscheidung der verschiedenen Machttypen wendet Foucault sich der Frage zu, ob es „[…] tatsächlich eine Gesamtökonomie der Macht gibt, welche die Form der Sicherheitstechnologie hat […]“[5] und inwiefern diese Gesamtökonomie der Macht „[…] in unseren Gesellschaften dabei ist, zur Sicherheitsordnung zu werden?“[6] Dieses Vorhaben verfolgt er an Hand der Sicherheitsräume, der Behandlung des Ereignisses und der spezifischen Normalisierungsformen der Sicherheit.
Bei den Sicherheitsräumen zeigt er die unterschiedlichen Vorgehensweisen und Strategien der Machtmechanismen bei der Gestaltung des städtischen Raumes an Hand des Werkes La métropolitée von Alexandre Le Maître sowie der Städte Richelieu und Nantes. Während sich die Souveränität vor allem mit dem Verhältnis zwischen Regierungssitz und Territorium befasst und die Disziplin einen leeren Raum funktionell und hierarchisch neu gestaltet, geht es der Sicherheit darum, mit Hilfe von Wahrscheinlichkeiten die Bevölkerung in einem gegebenen Raum zu regulieren und ein Milieu zu gestalten.[7]
Bei der Behandlung des Ereignisses stellt er dar, wie Mitte des 18. Jahrhunderts das juridische und disziplinarische System, das den Nahrungsmangel mit Hilfe von Verboten und Überwachung verhindern soll, vom Prinzip des freien Kornumlaufs abgelöst wird, bei dem die Schwankungen zwischen Überfluss und Knappheit nicht mehr verhindert, sondern als gegebene Wirklichkeit in die Planung mit einbezogen werden sollen.
Die Normalisierungsformen der Sicherheit schließlich unterscheiden sich deutlich von denen der Souveränität und der Disziplin. Während es die Funktion des Gesetzes ist, eine Norm zu kodifizieren, setzt die Disziplin eine Norm, an der sie die Individuen ausrichtet. Das Normale der Disziplin ist das, was sich an dieser Norm ausrichten lässt, das Anormale das, bei dem diese Ausrichtung an der Norm nicht funktioniert. Die Sicherheit dagegen nimmt keine Norm, sondern das Normale im Sinne eines Mittelwerts zum Ausgangspunkt. Nicht die Norm bestimmt das Normale, sondern das Normale die Norm.
Zielobjekt und -subjekt der Regulierungsmaßnahmen der Sicherheitsdispositive ist die Bevölkerung, die sich im Zuge dieser Maßnahmen als eigenständige Realität konstituiert.

„Die Bevölkerung als politisches Subjekt, als neues, dem juridischen und politischen Denken der vorangegangenen Jahrhunderte absolut fremdes, kollektives Subjekt [...] ist hier im Begriff, in ihrer Komplexität, mit ihren Zäsuren zutage zu treten. Sie sehen bereits, daß sie ebenso als Objekt zutage tritt, das heißt als das, auf das, gegen das man die Mechanismen lenkt, um eine bestimmte Wirkung auf sie zu erzielen (wie als) Subjekt, da sie es ja ist, von der man verlangt, sich in dieser oder jener Art zu verhalten.“[8]

Die Sicherheitsmechanismen verstehen die Bevölkerung nicht mehr im juridisch-politischen Sinne, sondern als technisch-politisches Objekt. Die Bevölkerung ist nicht mehr eine Menge von Untertanen oder Rechtssubjekten, sondern eine Gesamtheit von Elementen, die analysiert, verwaltet und reguliert werden müssen.[9]
Gleichzeitig werden die Sicherheitsmechanismen nicht mehr von einem Souverän gesteuert, sondern von einer Regierung, was eine neue Form der Regierungskunst erforderlich werden lässt. Am Beispiel von Machiavellis Werk Der Fürst[10] und der Anti-Machiavelli-Literatur stellt Foucault die „Kunst, Fürst zu sein“, der „Kunst des Regierens“ gegenüber.[11] Während bei Machiavelli das Verhältnis des Fürsten zu seinem Fürstentum durch „Singularität, Äußerlichkeit und Transzendenz“[12] bestimmt ist, ist die Kunst des Regierens durch die „[...] Pluralität der Regierungsformen und Immanenz der Regierung im Verhältnis zum Staat [...]“[13] gekennzeichnet. Im 16. Jahrhundert entwickelt die Regierungskunst eine aufsteigende Kontinuität der verschiedenen Regierungsformen: nur wer sich selbst zu führen weiß, wer die Familie und die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Haushalts im Sinne des oikos zu führen weiß, kann überhaupt in der Lage sein, den Staat zu regieren.[14] Die Regierungskunst besteht darin, die Macht im Sinne der Ökonomie auszuüben:

„Einen Staat zu regieren wird also heißen, die Ökonomie anzuwenden, eine Ökonomie auf der Ebene des Staates als Ganzem, das heißt, man wird, was die Einwohner, die Reichtümer, das Verhalten aller und jedes einzelnen betrifft, eine Form von berwachung und Kontrolle ausüben, die nicht weniger aufmerksam ist als die des Familienvaters über die Hausgemeinschaft und ihre Güter.“[15]

Der zentrale Unterschied zwischen der Souveränität und der Regierung liegt jedoch in ihrer unterschiedlichen Zielsetzung. Der Souverän herrscht in erster Linie über ein Territorium und nur vermittelt über die auf diesem Territorium lebenden Untertanen, mit dem selbstbezogenen Ziel, die Souveränität zu erhalten. Die Regierung dagegen bezieht sich nicht in erster Linie auf ein Territorium, sondern auf die Menschen und Dinge, die sie regiert.
Bis zum 18. Jahrhundert kann sich diese Regierungskunst jedoch nicht durchsetzen, da sie von der einseitigen Orientierung auf die Souveränität blockiert ist. Erst durch die demographische Expansion und die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion im 18. Jahrhundert werden die Voraussetzungen geschaffen, diese Blockade aufzuheben. Mit Hilfe der Statistik werden demographische Informationen wie beispielsweise Geburt- und Sterberaten, Epidemieverläufe und ökonomisch relevante Verhaltensregelmäßigkeiten gesammelt, die sich nicht mehr auf das Modell der Familie beziehen, sondern die Bevölkerung als eigene Wirklichkeit mit entsprechenden Phänomenen in den Blick nehmen. Mit dem Auftauchen der Bevölkerung als Bezugspunkt der Regierungstätigkeit wird die Familie vom Modell zum Instrument der Machtausübung über die Bevölkerung[16], die Ökonomie wird zur politischen Ökonomie:

„[...] der Übergang von einem Regime, das durch die Strukturen der Souveränität beherrscht ist, zu einem Regime, das durch die Techniken des Regierens beherrscht ist, tritt im 18. Jahrhundert im Kontext der Bevölkerung ein und folglich im Kontext der Geburt der politischen Ökonomie.“[17]

weiterlesen


[zara pfeiffer]

[1] Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 24f.
[2]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 76.
[3]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 22.
[4]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 23.
[5]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 26.
[6]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 26.
[7]
Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 29ff.
[8]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 70.
[9]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 108ff.
[10]
Machiavelli, Niccolò: Der Fürst, Stuttgart: Kröner, 1955.
[11]
Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 140.
[12]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 139.
[13]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 142.
[14]
Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 143.
[15]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 144.
[16]
Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 156ff.
[17] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevökerung, 2006, S. 159.

die gouvernementalität als werkzeug

Die Sicherheitsdispositive, welche im Laufe des 18. Jahrhunderts für die Regierung als Instrument der Machtausübung relevant werden, sind die spezifische Form der Machtausübung der Gouvernementalität. Foucault liefert jedoch keine eindeutige und klar umrissene Definition der Gouvernementalität, stattdessen verwendet er den Begriff Gouvernementalität in verschiedenen Bedeutungszusammenhängen und mehreren Variationen. Er bezeichnet damit die spezifischen Merkmale der Regierungstätigkeit ebenso wie ein spezifisches Machtsystem und eine historische Entwicklung.[1] Er verwendet die Gouvernementalität als Synonym für Regierungstätigkeit, Regierungsrationalität und auch einfach nur für Regierung[2]. Die Gouvernementalität richtet sich auf Individuen ebenso wie auf Gruppen oder ganze Bevölkerungen.[3] Beziehungen der Gouvernementalität sind Beziehungen des Regierens oder Lenkens von Menschen.[4]
Im Verlauf der Vorlesungen kristallisiert sich aus diesen vielfältigen Verwendungsarten des Gouvernementalitätsbegriffs eine tendentielle Entwicklung heraus, die von der spezifisch-historischen Verwendung des Begriffs in eine allgemeinere und abstraktere Richtung weist.[5] Während der Vorlesungen von 1979 bezeichnet Foucault mit dem Begriff Gouvernementalität nicht mehr ein spezifisches Machtsystem, sondern viel allgemeiner „[...] die Art und Weise, mit der man das Verhalten der Menschen steuert [...]“[6].
Betrachtet man die Herkunft und die Bezüge des Wortes Gouvernementalität im Kontext von Foucaults Gedankengängen genauer, dann bleiben zwei schlüssige Verwendungsweisen übrig. Zum einen eine spezifische, welche dazu dient, ein bestimmtes Machtsystem einzugrenzen, und zum anderen eine allgemeine, welche die Art und Weise beschreibt, nach der regiert wird.
Das deutsche Wort Gouvernementalität ist die Übersetzung des französischen Wortes gouvernementalité, das sich von dem Adjektiv gouvernemental ableitet, was mit die Regierung betreffend übersetzt werden kann.[7] Auch wenn Foucault es so deutlich nicht formuliert, ist davon auszugehen, dass er das Wort gouvernementalité dem Wort souveraineté, auf deutsch Souveränität, gegenüberstellt.[8] So wie die Souveränität als das Prinzip des Königs oder des Souveräns zu verstehen ist, ist die Gouvernementalität als das Prinzip der Regierung zu verstehen. Anders formuliert: die Souveränität bezeichnet die Art und Weise, wie der Souverän herrscht. Entsprechend bezeichnet die Gouvernementalität die Art und Weise, wie regiert wird.
Je nachdem, worauf der Begriff Gouvernementalität bezogen wird, verändert sich seine Bedeutung. Verwendet man Regierung in Abgrenzung zu Souveränität oder zu Disziplin als spezifisches Machtsystem, dann ist der Begriff Gouvernementalität spezifisch, als zur Regierung gehörendes Prinzip der Machtausübung zu verstehen. Unterscheidet man aber die unterschiedlichen Formen und Prinzipien zu regieren, dann ist das Wort Gouvernementalität allgemein, als Art und Weise, nach der regiert wird, zu verstehen.
Die Gouvernementalität ist für Foucault ein Mittel „[...] das Problem des Staates und der Bevölkerung anzugehen.“[9] Der Grund, warum Foucault hierfür einen, wie er zugibt, so „problematischen und künstlichen Begriff“[10] wie die Gouvernementalität verwendet und nicht den Staat oder die Bevölkerung selbst zum Ausgangspunkt der Analyse macht, ist seine genealogische Vorgehensweise. Der Staat ist für Foucault keine Universalie, der Staat ist nichts anderes „[...] als der bewegliche Effekt eines Systems von mehreren Gouvernementalitäten.“[11] Die Gouvernementalität ist ein Werkzeug, den Staat zu analysieren. Sie ist ein Instrument, die Genealogie des Staates mit Hilfe der Geschichte der Gouvernementalität zu schreiben. Gleichzeitig bietet sie Foucault die Möglichkeit, seine Machtanalyse auszuweiten und die Gesellschaft und den Staat in diese Analyse mit einzubeziehen, die sich bisher auf die Institutionen Psychiatrie, Gefängnis und Klinik beschränkt hatte.

„Ist es möglich, den modernen Staat in eine Gesamttechnologie der Macht wiedereinzusetzen, die seine Mutationen, seine Entwicklung, sein Funktionieren sicherten? Kann man von etwas wie einer 'Gouvernementalität' sprechen, die für den Staat das wäre, was die Absonderungstechniken für die Psychiatrie waren, was die Disziplinartechniken für das Strafsystem waren, was die Biopolitik für die medizinischen Institutionen war?“[12]

[zara pfeiffer]


[1] Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 162f.
[2] Vgl. Foucault, Michel: Subjekt und Macht, Dits et Ecrits IV, Nr. 306, S. 291.
[3] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 261.
[4] Vgl. Foucault, Michel: Der Intellektuelle und die Mächte, Dits et Ecrits IV, Nr. 359, S. 930.
[5] Vgl. Sennelart: Situierung der Vorlesungen, 2006, S. 482.
[6] Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 261.
[7] Die im deutschsprachigem Raum hin und wieder auftauchende Übersetzung mit Regierungsmentalität, mag zwar inhaltlich naheliegend sein, beruht jedoch auf der fälschlichen Annahme, dass es sich bei dem Wort gouvernementalité um die semantische Verbindung der beiden Worte gouvernement (Regierung) und mentalité (Denkweise) handelt. Vgl. Sennelart: Situierung der Vorlesungen, 2006, Fußnote 125, S. 482.
[8] Vgl. Lemke: Gouvernementalität und Biopolitik, 2007, Fußnote 5, S. 13.
[9] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevökerung, 2006, S. 174.
[10] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 174.
[11] Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 115.
[12] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevökerung, 2006, S. 180.

13 August, 2008

Geschichte der Gouvernementalität

Die beiden Vorlesungsreihen zur Geschichte der Gouvernementalität, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung und Die Geburt der Biopolitik, die Foucault in den Jahren 1978 und 1979 am Collège de France gehalten hat, bilden zusammen ein Dyptichon, dessen verbindendes Thema die Gouvernementalität und dessen Horizont die Biomacht ist, auch wenn diese im Verlauf der beiden Vorlesungsreihen von der Regierung in den Schatten gestellt wird.[1] In beiden Vorlesungsreihen verläßt Foucault zugunsten der Geschichte und Analyse der Gouvernementalität seinen ursprünglich geplanten Kurs. Sein Vorhaben von 1978, eine Geschichte der Sicherheitstechnologien vorzulegen[2] und von 1979, die Formationsbedingungen der Biopolitik[3] nachzuzeichnen, treten 1978 hinter das Projekt einer Geschichte der Gouvernementalität und 1979 hinter der Analyse der liberalen und neoliberalen Formen der Gouvernementalität zurück.
In den beiden Vorlesungsreihen zur Geschichte der Gouvernementalität entwickelt Foucault zum einen mit der Gouvernementalität ein Instrument, mit dem er seine bisherige Machtanalyse auf die Ebene der Gesellschaft und des Staates ausdehnen kann. Zum anderen ermöglicht ihm der Umweg über die Gouvernementalität, die Entwicklung des modernen Staates nachzuzeichnen, ohne diesen damit zu ontologisieren. Mit Hilfe der Gouvernementalität kann er eine „Genealogie des modernen Staates und seiner verschiedenen Apparate“[4] vorlegen.
[zara pfeiffer]

Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementaliät Teil 1
Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementaliät Teil 2


[1] Vgl. Sennelart, Michel: Situierung der Vorlesungen, in: Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France. 1978-1979, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 445ff.
[2]
Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 26.
[3]
Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 41ff.
[4] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 508.

Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik

Mit der Vorlesungsreihe Die Geburt der Biopolitik von 1979 knüpft Foucault genau dort an, wo er 1978 geendet hatte. Es handelt sich, wie er gleich zu Beginn der ersten Vorlesung bemerkt, um die direkte Fortsetzung der Vorlesungsreihe vom Vorjahr.[1] Zunächst erläutert er kurz die von ihm gewählte Methode zur Analyse des Staates: die Genealogie. Im Verlauf der Vorlesungreihe wird er wiederholt auf die an dieser Stelle angerissenen Methodenfragen zurückkommen.[2]
Anschließend geht er, die Vorlesungsreihe vom Vorjahr resümierend, kurz auf die Staatsräson ein, deren Regierungsweise nach außen ein durch das europäische Gleichgewicht begrenztes und nach innen ein durch das Prinzip des Polizeistaates unbegrenztes Ziel verfolgt. Das Recht als äußeres Begrenzungsprinzip der Staatsräson, welches ein Ausufern der königlichen Macht verhindern soll, wird als dominierendes Prinzip im 18. Jahrhundert von der politischen Ökonomie abgelöst. Diese wirkt im Inneren der neuen Regierungsrationalität als permanente Selbstbegrenzung des Regierungshandelns. Foucault identifiziert diese neue Regierungsrationalität als Liberalismus, in dem er die allgemeine Rahmenbedingung sieht, die zum Verständnis der Biopolitik notwendig ist:[3]


„Mir scheint jedoch, daß die Analyse der Biopolitik nur dann durchgeführt werden kann, wenn man die allgemeine Funktionsweise dieser gouvernementalen Vernunft verstanden hat [...]. Wenn man also verstanden hat, was dieses Regierungssystem ist, das Liberalismus genannt wird, dann, so scheint mir, wird man auch begreifen können, was die Biopolitik ist.“[4]
Das Vorhaben, das Foucault an dieser Stelle der Vorlesungsreihe ankündigt, besteht darin, zunächst den Liberalismus des 18. und des 20. Jahrhunderts zu untersuchen, um anschließend auf die Biopolitik zu sprechen zu kommen. [5] Da jedoch die Analyse des Liberalismus und des Neoliberalismus ausführlicher ausfällt als ursprünglich geplant, bleibt Foucault am Ende der Vorlesungsreihe keine Zeit mehr, die Biopolitik zu untersuchen. In der Zusammenfassung der Vorlesungsreihe schreibt er hierzu: „Die Vorlesung war dieses Jahr ausschließlich dem gewidmet, was nur eine Einleitung bilden konnte.“ [6]
In der zweiten und dritten Vorlesung befasst sich Foucault mit den spezifischen Merkmalen der liberalen Regierungskunst, die sich im 18. Jahrhundert entwickelt. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht der Markt, der nun nicht mehr ein Ort der Gerechtigkeit ist, sondern sich als ein Ort der Veridiktion[7] konstituiert, an dem sich die richtigen von den falschen Regierungshandlungen unterscheiden lassen. Die Begrenzung des Regierungshandelns erfolgt über zwei verschiedene, sich aber nicht notwendigerweise ausschließende Auffassungen von Freiheit: die des französischen Radikalismus, der sich auf die Menschenrechte beruft und die des englischen Utilitarismus, der jegliche Intervention der Regierung nach ihrer Nützlichkeit befragt.[8] Als dritten Aspekt der liberalen Regierungskunst behandelt Foucault die Erschließung des Weltmarktes, welche das für den Merkantilismus typische Nullsummenspiel zwischen den Staaten Europas beendet.[9]
Gegen Ende der dritten Vorlesung stellt Foucault fest, dass es sich bei der gouvernementalen Vernunft des 18. Jahrhunderts eher um eine Form des Naturalismus als des Liberalismus handelt, da die komplexe Natur der Wirtschaftsmechanismen, die es zu erkennen gilt, zum bestimmenden Prinzip der Regierungspraxis wird.[10] Den Begriff Liberalismus rechtfertigt er jedoch dadurch, dass sich im Zentrum der liberalen Regierungsweise die Freiheit befindet: diese ist sowohl notwendige Voraussetzung als auch zentrales Instrument des liberalen Regierungshandelns, welches sich nicht darauf beschränkt, sie zu akzeptieren oder zu sichern, sondern sie fortwährend herstellen muss.[11]
Ab der vierten Vorlesung wendet sich Foucault schließlich den beiden großen Formen des Neoliberalismus des 20. Jahrhunderts zu: dem deutschen Nachkriegsliberalismus der Jahre 1948 – 1962 und dem US-amerikanischen Liberalismus der Chicagoer Schule. Von der vierten bis einschließlich achten Vorlesung widmet sich Foucault der deutschen Form des Neoliberalismus, dem so genannten Ordoliberalismus, der mit der Idee der sozialen Marktwirtschaft die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit Konrad Adenauers und Ludwig Erhards entscheidend geprägt hat. In der zweiten Hälfte der achten Vorlesung befasst sich Foucault kurz mit der französischen Form des Neoliberalismus und der Sozialpolitik von Giscard d’Estaing, um sich ab der neunten Vorlesung dem US-amerikanischen Neoliberalismus der Chigagoer Schule zuzuwenden. Während die deutsche Form des Neoliberalismus die Logik des reinen Wettbewerbs auf den Markt beschränkt und diesen mit einem Bündel gesellschaftspolitischer Interventionen flankiert, versucht der US-amerikanische Neoliberalismus mittels der Theorie des Humankapitals die Rationalität des Marktes auch auf Bereiche auszudehnen, die bis dahin noch nicht nach dem Prinzip der Marktlogik organisiert waren, wie zum Beispiel das Bildungswesen.[12]
In den beiden letzten Vorlesungen befasst sich Foucault schließlich mit dem Modell des Homo oeconomicus und der bürgerlichen Gesellschaft, die beide im 18. Jahrhundert als Elemente der Regierungstechnik des Liberalismus in Erscheinung treten.

[zara pfeiffer]

Sicherheit, Territorium, Bevölkerung
Die Geschichte der GouvernementalitätMichel Foucault über Biomacht und Rassismus: Vorlesung vom 17. März 1976


[1] Vgl. Foucualt: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 13.[2] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 14ff, S. 58ff, S. 114ff, S. 187, S. 261ff.[3] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 40ff.[4] Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 43.[5] Den Liberalismus des 19. Jahrhunderts klammert Foucault in den Vorlesungen von 1978 und 1979 weitgehend aus. Nach der Analyse des Frühliberalismus des 18. Jahrhunderts geht er direkt zur Analyse des Neoliberalismus des 20. Jahrhunderts über. „Ich werde also einen Sprung von zwei Jahrhunderten machen, denn ich maße mir natürlich nicht an, Ihnen eine umfassende, allgemeine und zusammenhängende Geschichte des Liberalismus vom 18. bis ins 20. Jahrhundert zu liefern.“ Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 116; vgl. auch Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft, 1997, Fußnote 55, S. 195.[6] Foucault: Die Geburt der Biopolitik, Dits et Ecrits III, Nr. 274, S. 1020. Und zu Beginn der 8. Vorlesung von 1979 sagt er zu der ausführlichen Behandlung des Liberalismus folgendes: „Ich kann Ihnen trotz allem versichern, daß ich zu Beginn die Absicht hatte, über die Biopolitik zu sprechen, und dann geschah es, wie die Dinge eben liegen, daß ich lange und vielleicht zu lange über den Neoliberalismus [...] gesprochen habe.“ Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 260.[7] Mit dem Begriff Veridiktion bezeichnet Foucault die Macht des Wahrsprechens innerhalb eines Denksystems. Vgl. Ruoff: Foucault-Lexikon, 2007, S. 233f. „Das System der Veridiktion ist allerdings nicht ein bestimmtes Gesetz der Wahrheit, sondern die Gesamtheit der Regeln, die in Bezug auf einen gegebenen Diskurs die Bestimmung dessen gestatten, welches die Aussagen sind, die darin als wahr oder falsch charakterisiert werden können.“ Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 60.[8] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 65ff.[9] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 87.[10] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 94.[11] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 95ff.[12] Vgl. Sennelart: Situierung der Vorlesungen, 2006, S. 478.

michel foucault: sicherheit, territorium, bevölkerung

Foucault beginnt die Vorlesungsreihe Sicherheit, Territorium, Bevölkerung von 1978 mit dem Plan, der Frage nachzugehen, inwiefern sich die Gesamtökonomie der Macht in Richtung einer Sicherheitsordnung entwickelt hat. Gleichzeitig möchte er die Mechanismen aufzeigen, durch die die Bevölkerung im 18. Jahrhundert in eine allgemeine Strategie der Macht eingetreten ist.[1] Es geht ihm um „[...] die Korrelation zwischen der Sicherheitstechnik und der Bevölkerung, zugleich als Objekt und Subjekt dieser Sicherheitsmechanismen, das heißt, die Emergenz nicht nur dieses Begriffs, sondern dieser Realität der Bevölkerung.“ [2]
Die ersten drei Vorlesungen von 1978 widmet er der Untersuchung der Sicherheitsdispositive, die er als Machtform gegenüber den juridischen und den disziplinarischen Formen der Machtausübung abgrenzt, und deren Entstehung den Auftritt der Bevölkerung als Zielscheibe der Machtausübung markiert. An diese Analyse der Sicherheitsdispositive in ihrem Verhältnis zur Bevölkerung anschließend, wendet sich Foucault zu Beginn der vierten Vorlesung am 1. Februar 1978 dem Begriff der Regierung zu, um gegen Ende dieser Vorlesung seinen bisher eingeschlagenen Kurs zu korrigieren und eine Umbenennung der Vorlesung in Geschichte der Gouvernementalität vorzuschlagen:

„Wenn ich der Vorlesung, die ich dieses Jahr in Angriff genommen habe, einen genaueren Titel hätte geben wollen, so hätte ich im Grunde genommen bestimmt nicht ‚Sicherheit, Territorium, Bevölkerung’ gewählt. Was ich jetzt tun würde, wenn ich es wirklich tun wollte, das wäre etwas, das ich eine Geschichte der ‚Gouvernementalität’ nennen würde.“[3]
An dieser Stelle führt Foucault erstmals den Begriff Gouvernementalität ein, mit dem er eine Machtform bezeichnet, die mit komplexen Regierungstaktiken operiert und die Bevölkerung mit Hilfe der Sicherheitsdispositive und der politischen Ökonomie regiert.[4] Die folgenden Sitzungen der Vorlesungsreihe von 1978 verwendet Foucault darauf, die Gouvernementalisierung des Staates, d. h. die historische Entwicklung, welche die Gouvernementalität zur dominierenden Form der Machtausübung hat werden lassen, nachzuzeichnen. Die drei zentralen Stützpunkte, von denen diese Gouvernementalisierung des Staates ausgeht, sind das christliche Pastorat sowie die beiden großen Ensembles politischer Technologien der Staatsräson: die diplomatisch-militärische Technik und die Polizei.[5]
Der Analyse des christlichen Pastorats als Vorspiel der Gouvernementalität widmet Foucault in einem weiten historischen Bogen die Vorlesungen fünf bis acht. Die Pastoralmacht, die Foucault auch als „Kunst, die Menschen zu regieren“[6] bezeichnet, sieht er als Vorspiel der Gouvernementalität, „[…] deren Eintritt in die Politik [...] die Schwelle des modernen Staates markiert.“[7] In der neunten Vorlesung befasst sich Foucault mit dem Übergang von der „Pastoral der Seelen zur politischen Regierung der Menschen[...]“[8]. Daran anschließend behandelt er vom Ende der neunten bis zur zwölften Vorlesung die Staatsräson, mit der sich der Staat nun auf sich selbst und nicht mehr auf religiöse oder natürliche Begründungen stützt. Die elfte Vorlesung widmet Foucault der diplomatisch-militärischen Technik, welche das Kräftegleichgewicht zwischen den Staaten sicherstellen soll, und die zwölfte Vorlesung der Polizei, welche sowohl für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung des Staates als auch für die Maximierung der Kräfte im Inneren des Staates zuständig ist. In der dreizehnten und damit letzten Vorlesung der Vorlesungsreihe von 1978 befasst sich Foucault schließlich mit der im 18. Jahrhundert aufkommenden Kritik der Physiokraten an der reglementierenden Regierungstechnik der Polizei, in deren Folge sich der Polizeistaat zu einem Regierungsstaat entwickelt, der die Bevölkerung mit Hilfe der Statistik und der Wahrscheinlichkeit regiert.
Mit diesem Auftritt der Bevölkerung, die durch die Sicherheitsdispositive regiert wird, schließt Foucault den Kreis zum Beginn der Vorlesungsreihe und beendet diese mit der Bemerkung, dass der Staat keine Ontologie sei, sondern eine Handlungs- und Denkweise, deren Geschichte eine Genealogie des Staates in Form der Geschichte der Gouvernementalität ermöglicht.[9]
[zara pfeiffer]

Die Geburt der Biopolitik

Die Geschichte der Gouvernementalität


[1] Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 26.[2] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 27.[3] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 162.[4] Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 162.[5] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 165f[6] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 242.[7] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 242.[8] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 333.[9] Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 505 und S. 513.