11 April, 2011

Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945



In eigener Sache und auch hier natürlich nicht ohne Foucault: 

Zara Pfeiffer (Hg.): Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landes-hauptstadt München, Volk Verlag, April 2011, 300 Seiten, 19,90, ISBN: 978-3-86222-014-4  



Aus der Einleitung:
In Anlehnung an Michel Foucaults Begriff der Kritik verstehe ich Protest als eine Praxis der „Entunterwerfung“, als die in die Öffentlichkeit getragene Haltung, sich „nicht so regieren zu lassen“. In einem Vortrag aus dem Jahr 1978 beschreibt Foucault seinen Begriff von Kritik folgendermaßen: „Als Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weise ihnen zu misstrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zu verschieben zu suchen, als Posten zu ihrer Hinhaltung und doch auch als Linie der Entfaltung der Regierungskünste ist damals in Europa eine Kulturform entstanden, eine moralische und politische Haltung, eine Denkungsart, welche ich nenne: die Kunst nicht regiert zu werden bzw. die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden.“[i] Und er sagt weiter: „Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen – und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.“[ii] 
Foucault entwirft seinen Begriff der Kritik in einem engen Wechselverhältnis zu der Art und Weise, wie regiert wird. Regierung meint in diesem Kontext nicht die konkrete Regierung eines Staates oder einer Stadt, sondern die Gesetze und Verordnungen, Normen und Verhaltensregeln, die medialen Inszenierungen und architekturalen Begebenheiten etc. – also all die Techniken und Mechanismen, mit denen Menschen gelenkt und Bevölkerungen reguliert werden. Die Kritik ist eine Haltung des Individuums, sich diesen Regierungsweisen nicht uneingeschränkt zu unterwerfen – die Kunst nicht so regiert zu werden. Protest wäre dann die Praxis, diese Kritik auf die Straße bzw. in die Öffentlichkeit zu tragen, eine Bewegung der Entunterwerfung im öffentlichen Raum.

INHALTSVERZEICHNIS

Hans-Georg Küppers: Vorwort // Zara S. Pfeiffer: Nicht so regiert werden ... Proteste in München seit 1945. Eine Einleitung // Daniel Habit: Erinnern – Vergessen – Verdrängen: Proteste und städtische Erinnerungskultur // Martin W. Rühlemann: „Mir zaynen do“. Die Möhlstraße als Schauplatz jüdischer Proteste // Günther Gerstenberg: Flusslandschaften – Protest in München von 1945 bis in die Gegenwart. Auszug aus den Jahren 1948 bis 1950 // Katharina Ruhland: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung“. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und ihre Rolle bei den frühen antifaschistischen Protesten nach 1945 // Günther Gerstenberg: „Solang der Alte Peter ... bis zwei Uhr und nicht später“. Wie die verlängerten Samstag-Ladenöffnungszeiten 1953/54 beinahe zu einem Bürgerkrieg führten. // Gerhard Fürmetz: Fünf Protestnächte mit weit reichenden Folgen. Die „Schwabinger Krawalle“ vom Juni 1962 // Elisabeth Angermair: „Ohne Provokation werden wir überhaupt nicht wahrgenommen“. Die Studentenproteste Ende der 1960er Jahre im Spiegel der Pressefotografie // Ulrich Chaussy: Tod in München – Frings und Schreck. Die Eskalation bei den „Osterunruhen“ 1968 in München // Michael Sturm: „Die Räumung ging flott und zügig vonstatten“. Eine kleine Geschichte der Polizeibewaffnung // Niels Seibert: „Wie viele Todesopfer haben Sie in die Kosten-Gewinn-Berechnung eingeplant?“. Internationalistische Proteste auf Aktionärsversammlungen // Simon Goeke: „Wir nehmen unsere Sache jetzt selbst in die Hand“. Von protestierenden Gästen und multinationalen Revolutionär/innen // Michael Sturm: „PASST BLOSS AUF!“ Militante Proteste in München (1969 – 1982) // Siegfried Benker: „Aufruhr Widerstand – es gibt kein ruhiges Hinterland“. München und der Widerstand gegen die WAA in Wackersdorf // Michael Backmund: „Kriegsgerät interessiert uns brennend“. Antimilitaristische Proteste – Schlaglichter von 1945 bis 2010 // Petra Gerschner: „Der ganze Kuchen ist vergiftet“. Schlaglichter feministischer Aktionen und Organisierungsprozesse 1968 bis 1992 // Angelika Lex: „Alle Bewohner Bayerns haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder besondere Erlaubnis friedlich und unbewaffnet zu versammeln.“ Repression als Reaktion auf Proteste – Proteste als Reaktion auf Repression // Philip Zölls: „Eine menschenwürdige Stadt wird uns nicht geschenkt, wir müssen sie erkämpfen.“ Stadtteilproteste in Haidhausen in den 1970er und 1980er Jahren // Raul Zelik: Von München an den Río San Juan. Eine Nicaragua-Brigade als Coming of Age // Gabriele Fischer: „Und wie normal bist du?“ Der Christopher-Street-Day in München // Katrin Sorko: „Keine Ruhe den Handlangern des Kapitals“. Die Proteste gegen den Weltwirtschaftsgipfel 1992 und die Folgen // Cornelia Gockel: Revolution war gestern. Kunst und Protest an der Akademie der Bildenden Künste in München // Katharina Wagner: „Dies ist ohne Zweifel so etwas wie ein Glaubensbekenntnis“. Zu den Studierendenprotesten 1997/98 – 2003/04 – 2009/10 // Marcus Buschmüller: „Heraus gegen Neonazismus und Rassismus!“ Proteste gegen die extreme Rechte in München // Matthias Weinzierl: Wir essen eure Suppe nicht! Protest im Flüchtlingslager. Ein Comic // Julia Jäckel: Von Kampffliegern in der Fußgängerzone und Piratensendern in der Tagesschau. Wie sich öffentliche Räume und Gegenöffentlichkeiten herstellen können // Julia Jäckel: „Moments of Starlings – der Gegenöffentlichkeit Raum geben. Interview mit den Urbanautinnen Ulrike Bührlen und Anja Junghans // Zara S. Pfeiffer: Protestmaschinen. Reale Interventionen virtueller Proteste // Stephanie Müller: Gestrickte „Bomben“. Künstlerische Aktionen im öffentlichen Raum // *













[i]           Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin: Merve, 1992, S. 12.
[ii]           Ebd., S. 15.