13 August, 2008

Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik

Mit der Vorlesungsreihe Die Geburt der Biopolitik von 1979 knüpft Foucault genau dort an, wo er 1978 geendet hatte. Es handelt sich, wie er gleich zu Beginn der ersten Vorlesung bemerkt, um die direkte Fortsetzung der Vorlesungsreihe vom Vorjahr.[1] Zunächst erläutert er kurz die von ihm gewählte Methode zur Analyse des Staates: die Genealogie. Im Verlauf der Vorlesungreihe wird er wiederholt auf die an dieser Stelle angerissenen Methodenfragen zurückkommen.[2]
Anschließend geht er, die Vorlesungsreihe vom Vorjahr resümierend, kurz auf die Staatsräson ein, deren Regierungsweise nach außen ein durch das europäische Gleichgewicht begrenztes und nach innen ein durch das Prinzip des Polizeistaates unbegrenztes Ziel verfolgt. Das Recht als äußeres Begrenzungsprinzip der Staatsräson, welches ein Ausufern der königlichen Macht verhindern soll, wird als dominierendes Prinzip im 18. Jahrhundert von der politischen Ökonomie abgelöst. Diese wirkt im Inneren der neuen Regierungsrationalität als permanente Selbstbegrenzung des Regierungshandelns. Foucault identifiziert diese neue Regierungsrationalität als Liberalismus, in dem er die allgemeine Rahmenbedingung sieht, die zum Verständnis der Biopolitik notwendig ist:[3]


„Mir scheint jedoch, daß die Analyse der Biopolitik nur dann durchgeführt werden kann, wenn man die allgemeine Funktionsweise dieser gouvernementalen Vernunft verstanden hat [...]. Wenn man also verstanden hat, was dieses Regierungssystem ist, das Liberalismus genannt wird, dann, so scheint mir, wird man auch begreifen können, was die Biopolitik ist.“[4]
Das Vorhaben, das Foucault an dieser Stelle der Vorlesungsreihe ankündigt, besteht darin, zunächst den Liberalismus des 18. und des 20. Jahrhunderts zu untersuchen, um anschließend auf die Biopolitik zu sprechen zu kommen. [5] Da jedoch die Analyse des Liberalismus und des Neoliberalismus ausführlicher ausfällt als ursprünglich geplant, bleibt Foucault am Ende der Vorlesungsreihe keine Zeit mehr, die Biopolitik zu untersuchen. In der Zusammenfassung der Vorlesungsreihe schreibt er hierzu: „Die Vorlesung war dieses Jahr ausschließlich dem gewidmet, was nur eine Einleitung bilden konnte.“ [6]
In der zweiten und dritten Vorlesung befasst sich Foucault mit den spezifischen Merkmalen der liberalen Regierungskunst, die sich im 18. Jahrhundert entwickelt. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht der Markt, der nun nicht mehr ein Ort der Gerechtigkeit ist, sondern sich als ein Ort der Veridiktion[7] konstituiert, an dem sich die richtigen von den falschen Regierungshandlungen unterscheiden lassen. Die Begrenzung des Regierungshandelns erfolgt über zwei verschiedene, sich aber nicht notwendigerweise ausschließende Auffassungen von Freiheit: die des französischen Radikalismus, der sich auf die Menschenrechte beruft und die des englischen Utilitarismus, der jegliche Intervention der Regierung nach ihrer Nützlichkeit befragt.[8] Als dritten Aspekt der liberalen Regierungskunst behandelt Foucault die Erschließung des Weltmarktes, welche das für den Merkantilismus typische Nullsummenspiel zwischen den Staaten Europas beendet.[9]
Gegen Ende der dritten Vorlesung stellt Foucault fest, dass es sich bei der gouvernementalen Vernunft des 18. Jahrhunderts eher um eine Form des Naturalismus als des Liberalismus handelt, da die komplexe Natur der Wirtschaftsmechanismen, die es zu erkennen gilt, zum bestimmenden Prinzip der Regierungspraxis wird.[10] Den Begriff Liberalismus rechtfertigt er jedoch dadurch, dass sich im Zentrum der liberalen Regierungsweise die Freiheit befindet: diese ist sowohl notwendige Voraussetzung als auch zentrales Instrument des liberalen Regierungshandelns, welches sich nicht darauf beschränkt, sie zu akzeptieren oder zu sichern, sondern sie fortwährend herstellen muss.[11]
Ab der vierten Vorlesung wendet sich Foucault schließlich den beiden großen Formen des Neoliberalismus des 20. Jahrhunderts zu: dem deutschen Nachkriegsliberalismus der Jahre 1948 – 1962 und dem US-amerikanischen Liberalismus der Chicagoer Schule. Von der vierten bis einschließlich achten Vorlesung widmet sich Foucault der deutschen Form des Neoliberalismus, dem so genannten Ordoliberalismus, der mit der Idee der sozialen Marktwirtschaft die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit Konrad Adenauers und Ludwig Erhards entscheidend geprägt hat. In der zweiten Hälfte der achten Vorlesung befasst sich Foucault kurz mit der französischen Form des Neoliberalismus und der Sozialpolitik von Giscard d’Estaing, um sich ab der neunten Vorlesung dem US-amerikanischen Neoliberalismus der Chigagoer Schule zuzuwenden. Während die deutsche Form des Neoliberalismus die Logik des reinen Wettbewerbs auf den Markt beschränkt und diesen mit einem Bündel gesellschaftspolitischer Interventionen flankiert, versucht der US-amerikanische Neoliberalismus mittels der Theorie des Humankapitals die Rationalität des Marktes auch auf Bereiche auszudehnen, die bis dahin noch nicht nach dem Prinzip der Marktlogik organisiert waren, wie zum Beispiel das Bildungswesen.[12]
In den beiden letzten Vorlesungen befasst sich Foucault schließlich mit dem Modell des Homo oeconomicus und der bürgerlichen Gesellschaft, die beide im 18. Jahrhundert als Elemente der Regierungstechnik des Liberalismus in Erscheinung treten.

[zara pfeiffer]

Sicherheit, Territorium, Bevölkerung
Die Geschichte der GouvernementalitätMichel Foucault über Biomacht und Rassismus: Vorlesung vom 17. März 1976


[1] Vgl. Foucualt: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 13.[2] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 14ff, S. 58ff, S. 114ff, S. 187, S. 261ff.[3] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 40ff.[4] Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 43.[5] Den Liberalismus des 19. Jahrhunderts klammert Foucault in den Vorlesungen von 1978 und 1979 weitgehend aus. Nach der Analyse des Frühliberalismus des 18. Jahrhunderts geht er direkt zur Analyse des Neoliberalismus des 20. Jahrhunderts über. „Ich werde also einen Sprung von zwei Jahrhunderten machen, denn ich maße mir natürlich nicht an, Ihnen eine umfassende, allgemeine und zusammenhängende Geschichte des Liberalismus vom 18. bis ins 20. Jahrhundert zu liefern.“ Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 116; vgl. auch Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft, 1997, Fußnote 55, S. 195.[6] Foucault: Die Geburt der Biopolitik, Dits et Ecrits III, Nr. 274, S. 1020. Und zu Beginn der 8. Vorlesung von 1979 sagt er zu der ausführlichen Behandlung des Liberalismus folgendes: „Ich kann Ihnen trotz allem versichern, daß ich zu Beginn die Absicht hatte, über die Biopolitik zu sprechen, und dann geschah es, wie die Dinge eben liegen, daß ich lange und vielleicht zu lange über den Neoliberalismus [...] gesprochen habe.“ Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 260.[7] Mit dem Begriff Veridiktion bezeichnet Foucault die Macht des Wahrsprechens innerhalb eines Denksystems. Vgl. Ruoff: Foucault-Lexikon, 2007, S. 233f. „Das System der Veridiktion ist allerdings nicht ein bestimmtes Gesetz der Wahrheit, sondern die Gesamtheit der Regeln, die in Bezug auf einen gegebenen Diskurs die Bestimmung dessen gestatten, welches die Aussagen sind, die darin als wahr oder falsch charakterisiert werden können.“ Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 60.[8] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 65ff.[9] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 87.[10] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 94.[11] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 95ff.[12] Vgl. Sennelart: Situierung der Vorlesungen, 2006, S. 478.

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