19 April, 2009

Michel Foucault über Biomacht und Rassismus: Vorlesung vom 17. März 1976

Die Vorlesung vom 17. März 1976, in der Foucault die Begriffe Biomacht und Biopolitik einführt und über den Rassismus spricht. Erschienen bei Suhrkamp: Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), aus dem Französischen von Michaela Ott, Frankfurt/M. 1999, S. 276-305.

Hier ein paar Zitate:

"Und ich denke, dass eine der nachhaltigsten Transformationen des politischen Rechts im 19. Jahrhundert darin bestand, dieses alte Recht der Souveränität sterben zu machen oder leben zu lassen zwar nicht unbedingt zu ersetzen, aber durch ein anderes neues Recht zu ergänzen, durch ein Recht, das ersteres nicht beseitigt, sondern in es eindringt, es durchdringt, verändert und das ein Recht oder vielmehr eine genau umgekehrte Macht ist: die Macht, leben zu »machen« und sterben zu »lassen«. Das Recht der Souveränität besteht demgemäß darin, sterben zu machen oder leben zu lassen. Danach installiert sich dieses neue Recht: das Recht, leben zu machen und sterben zu lassen."

"Ich möchte diese Veränderung nicht auf der Ebene der politischen Theorie, sondern eher der Mechanismen, der Techniken und Machttechnologien verfolgen. Dabei stößt man auf vertraute Dinge: im 17. und 18. Jahrhundert sieht man Machttechniken entstehen, die wesentlich auf den Körper, den individuellen Körper gerichtet waren. All diese Prozeduren ermöglichten die räumliche Verteilung der individuellen Körper (ihre Trennung, ihre Ausrichtung, ihre Serialisierung und Überwachung) und die Organisation eines ganzen Feldes der Sichtbarkeit rund um diese individuellen Körper. Mit Hilfe dieser Techniken vereinnahmte man die Körper, versuchte man ihre Nutzkraft durch Übung, Dressur usw. zu verbessern. Es handelte sich zugleich um Techniken der Rationalisierung und der strikten Ökonomie einer Macht, die auf am wenigsten kostspielige Weise mittels eines gesamten Systems der Überwachung, der Hierarchie, Kontrolle, Aufzeichnung und Berichte ausgeübt werden sollte: Diese gesamte Technologie wird man als Disziplinartechnologie der Arbeit bezeichnen. Sie wurde mit dem ausgehenden 17. und im Laufe des 18. Jahrhunderts installiert."

"In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehen wir, wie mir scheint, etwas Neues auftreten, das eine andere, diesmal nicht-disziplinäre Machttechnologie darstellt. Eine Machttechnologie, die erstere nicht ausschließt, die die Disziplinartechnik nicht ausschließt, sondern sie umfaßt, integriert, teilweise modifiziert und sie vor allem benutzen wird, indem sie sich in gewisser Weise in sie einfügt und dank dieser vorgängigen Disziplinartechnik wirklich festsetzt. Diese neue Technik unterdrückt die Disziplinartechnik nicht, da sie ganz einfach auf einer anderen Ebene, auf einer anderen Stufe angesiedelt ist, eine andere Oberflächenstruktur besitzt und sich anderer Instrumente bedient.
Diese neue Technik der nicht-disziplinären Macht lässt sich nun im Gegensatz zur Disziplin, die sich auf den Körper richtet auf das Leben der Menschen anwenden; sie befasst sich, wenn Sie so wollen, nicht mit dem Körper-Menschen, sondern dem lebendigen Menschen, dem Menschen als Lebewesen, und letztendlich, wenn Sie so wollen, dem Gattungsmenschen. Genauer gesagt versucht die Disziplin die Vielfalt der Menschen zu regieren, insofern diese Vielfalt sich in individuelle, zu überwachende, zu dressierende, zu nutzende, gegebenenfalls zu bestrafende Körper unterteilen lässt. Die neue Technologie dagegen richtet sich an die Vielfalt der Menschen, nicht insofern sie sich zu Körpern zusammenfassen lassen, sondern insofern diese im Gegenteil eine globale Masse bilden, die von dem Leben eigenen Gesamtprozessen geprägt sind wie Prozessen der Geburt, des Todes, der Produktion, Krankheit usw. Nach einem ersten Machtzugriff auf den Körper, der sich nach dem Modus der Individualisierung vollzieht, haben wir einen zweiten Zugriff der Macht, nicht individualisierend diesmal, sondern massenkonstituierend, wenn Sie so wollen, der sich nicht an den Körper-Menschen, sondern an den Gattungs-Menschen richtet. Nach der Anatomie-Politik des menschlichen Körpers, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbreitete, sehen wir am Ende dieses Jahrhunderts etwas auftreten, das keine Anatomie-Politik des menschlichen Körpers mehr ist, sondern etwas, das ich als »Biopolitik« der menschlichen Gattung bezeichnen würde."

"Worum geht es in dieser neuen Technologie der Macht, in dieser Biopolitik, in dieser Bio-Macht, die sich durchzusetzen beginnt? Ich habe es vorhin in zwei Worten gesagt: es handelt sich um eine Gesamtheit von Prozessen wie das Verhältnis von Geburt- und Sterberaten, den Geburtenzuwachs, die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung usf. Diese Prozesse der Geburten- und Sterberate, der Lebensdauer haben gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Verbindung mit einer ganzen Menge ökonomischer und politischer Probleme (auf die ich jetzt nicht eingehe) die ersten Wissensobjekte und die ersten Zielscheiben biopolitischer Kontrolle abgegeben. Auf jeden Fall verwirklicht man zu diesem Zeitpunkt mit den ersten demographischen Erhebungen die statistische Messung dieser Phänomene. Es handelt sich um die Beobachtung von mehr oder weniger spontanen und planvollen Verfahren, die in der Bevölkerung in Bezug auf die Natalität durchgeführt wurden; es geht, wenn Sie so wollen, um die Ermittlung von Phänomenen der Geburtenkontrolle, wie sie im 18. Jahrhundert praktiziert wurde. Es kommt nun im Ansatz zu einer Geburtenpolitik oder jedenfalls zu Interventionsschemata in diese globalen Phänomene der Geburtenrate. In dieser Biopolitik handelt es sich nicht einfach um das Problem der Fruchtbarkeit. Es geht auch um das Problem der Sterblichkeit, nicht mehr einfach, wie es bis dahin der Fall war, auf der Ebene jener berühmten Epidemien, deren Gefahr die politischen Mächte seit dem tiefen Mittelalter so sehr bedrohte (die berühmten Epidemien, die vorübergehende Dramen des vervielfachten Todes, des allen drohenden Todes waren). Zu diesem Zeitpunkt gegen Ende des 18. Jahrhunderts geht es sich nicht um Epidemien, sondern um etwas anderes, das man Endemien nennen könnte, das heißt die Form, Natur, Ausdehnung, Dauer und Intensität der in einer Bevölkerung herrschenden Krankheiten. Mehr oder weniger schwer ausrottbare Krankheiten, die anders als die Epidemien nicht unter dem Blickwinkel zunehmender Todesursachen betrachtet werden, sondern als permanente Faktoren so werden sie behandelt des Entzugs von Kräften, der Verminderung der Arbeitszeit, des Energieverlustes und ökonomischer Kosten, und zwar ebensosehr aufgrund des von ihnen produzierten Mangels wie der Pflege, die sie kosten können. Kurz, Krankheit als Bevölkerungsphänomen: nicht mehr als Tod, der sich brutal auf das Leben legt das ist die Epidemie , sondern als permanenter Tod, der in das Leben hineinschlüpft, es unentwegt zerfrisst, es mindert und schwächt."

"Es geht um das Konzept der »Bevölkerung«. Die Biopolitik hat es mit der Bevölkerung, mit der Bevölkerung als politischem Problem, als zugleich wissenschaftlichem und politischem Problem, als biologischem und Machtproblem zu tun ich denke, dass dies der Augenblick ist, in dem sie in Erscheinung tritt."


"Diesseits dieser großen absoluten, dramatischen und dunklen Macht der Souveränität, die darin bestand, sterben zu machen, tritt jetzt mit dieser Technologie der Biomacht, dieser Technologie der Macht über »die« Bevölkerung als solche, über den Menschen als Lebenwesen, eine dauerhafte und gelehrte Macht hervor: die Macht, »leben zu machen«. Die Souveränität machte sterben und ließ leben. Nun tritt eine Macht in Erscheinung, die ich als Regulierungsmacht bezeichnen würde und die im Gegenteil darin besteht, leben zu machen und sterben zu lassen."

"Ich möchte jetzt gerne die Unterscheidung zwischen der regulatorischen Technologie des Lebens und der disziplinären Technologie des Körpers, von der ich vorhin gesprochen habe, wiederaufgreifen. Seit dem 18. Jahrhundert (oder in jedem Fall seit dem Ende des 18. Jahrhunderts) gibt es zwei Machttechnologien, die sich in einem gewissen zeitlichen Abstand etabliert haben und sich überlagern. Zunächst die Disziplinartechnik: Sie richtet sich auf den Körper, sie produziert individualisierende Wirkungen, sie manipuliert den Körper als Zentrum von Kräften, die zugleich nützlich und gelehrig zu machen sind. Und auf der anderen Seite haben wir eine Technologie, die sich nicht an den Körper, sondern an das Leben wendet; eine Technologie, die die einer Bevölkerung eigenen Masseneffekte zusammenfasst und die Serie der Zufallsereignisse, die in einer lebendigen Masse auftauchen können, zu kontrollieren sucht; eine Technologie, die danach strebt, deren Wahrscheinlichkeit zu kontrollieren (und gegebenenfalls zu modifizieren), in jedem Fall deren Wirkungen zu kompensieren. Es handelt sich um eine Technologie, die nicht durch individuelle Dressur, sondern durch globales Gleichgewicht auf etwas wie Homöostase zielt: auf die Sicherheit des Ganzen vor seinen inneren Gefahren. Mithin eine Dressurtechnologie im Gegensatz zu und unterschieden von einer Sicherheitstechnologie; eine Disziplinartechnologie, die sich von einer Versicherungs- oder Regulierungstechnologie unterscheidet: eine Technologie, die zwar in beiden Fällen eine Technologie des Körpers ist, wo es sich aber in dem einen Fall um eine Technologie handelt, in der der Körper als mit Fähigkeiten ausgestatteter Organismus individualisiert wird, und im anderen um eine Technologie, in der die Körper durch die biologischen Gesamtprozesse ersetzt werden."

"Wir haben also zwei Serien: die Serie Körper Organismus Disziplin Institutionen; und die Serie Bevölkerung biologische Prozesse Regulierungsmechanismen* Staat."

"Nehmen Sie einen ganz anderen – freilich nicht völlig anderen, nicht vollständig anderen – Bereich; nehmen Sie auf einer anderen Achse so etwas wie die Sexualität. Warum wird die Sexualität im 19. Jahrhundert zu einem Bereich, dessen strategische Bedeutung sehr groß ist? Wenn die Sexualität wichtig war, dann aus verschiedenen Gründen, vor allem aber aus folgenden: Einerseits ergibt sich die Sexualität als körperliches Verhalten aus einer individualisierenden Disziplinarkontrolle in der Form permanenter Überwachung (ab dem Ende des 18. Jahrhunderts hat man beispielsweise begonnen, die Kinder den berühmten Kontrollen der Masturbation auszusetzen und zwar im familiären Bereich, im schulischen Bereich usf.; sie stellen genau diese Seite der disziplinären Kontrolle der Sexualität dar); daneben fügt sich die Sexualität dank ihrer Fortpflanzungseffekte gleichzeitig in die umfassenden biologischen Prozesse ein, die nicht mehr den Körper des Individuums, sondern jenes Element, jene multiple Einheit betreffen, die die Bevölkerung ist. Die Sexualität befindet sich an der Kreuzung von Körper und Bevölkerung. Folglich gehört sie zur Disziplin, aber auch zur Regulierung."


"Noch allgemeiner lässt sich sagen, dass das Element, das vom Disziplinären zum Regulatorischen verläuft und sich auf dieselbe Weise auf den Körper und die Bevölkerung bezieht und zugleich die Kontrolle der disziplinären Ordnung des Körpers und der Zufallsereignisse einer biologischen Vielfalt erlaubt, dass dieses Element, das vom einen zum anderen zirkuliert, die »Norm« ist. Die Norm, das ist das, was sich auf einen Körper, den man disziplinieren will, ebensogut anwenden lässt wie auf eine Bevölkerung, die man regulieren will. Die Normalisierungsgesellschaft ist, so gesehen, nicht eine Art verallgemeinerter Disziplinargesellschaft, deren Disziplinarinstitutionen sich ausgebreitet und die schließlich den gesamten Raum abgedeckt hätten – dies ist nur eine erste und, wie ich denke, unzureichende Interpretation der Idee der Normalisierungsgesellschaft. Die Normalisierungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden. Wenn man behauptet, dass die Macht im 19. Jahrhundert vom Leben Besitz ergriffen hat oder zumindest, dass die Macht im 19. Jahrhundert das Leben in Beschlag genommen hat, heißt das, dass es ihm gelungen ist, die gesamte Oberfläche abzudecken, die sich vom Organischen zum Biologischen, vom Körper zur
Bevölkerung dank des doppelten Spiels der Disziplinartechnologien einerseits, der Regulierungstechnologien andererseits erstreckt."

Die komplette Vorlesung vom 17. März 1976 lässt sich auch online lesen:
http://www.momo-berlin.de/Foucault_Vorlesung_17_03_76.html

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