21 September, 2008
Michel Foucault: Das Spiel der Grenzen und der Überschreitung
Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: Eine Grenze, die absolut nicht überquert werden könnte, wäre inexistent; umgekehrt wäre eine Überschreitung, die nur eine scheinbare oder schattenhafte Grenze durchbrechen würde, nichtig. Doch existiert die Grenze überhaupt ohne die Geste, die sie stolz durchquert und leugnet? Was wäre sie danach und was könnte sie davor sein? Und schöpft die Überschreitung nicht alles aus, was sie in dem Augenblick ist, an dem sie die Grenze überquert und nirgendwo sonst ist als in diesem Punkt der Zeit? Ist nun aber dieser Punkt, diese eigentümliche Überkreuzung von Wesen, die außerhalb von ihm nicht existieren, sondern in ihm vollständig austauschen, was sie sind, nicht genau all das, was überhall über ihn hinausgeht? Er verfährt als Verherrlichung dessen, was er ausschließt; die Grenze öffnet sich gewaltsam auf das Unbegrenzte hin, erfährt sich plötzlich von dem von ihr verworfenen Inhalt mitgerissen und von einer eigentümlichen Fülle vollendet, die bis in ihr Innerstes dringt. Die Überschreitung treibt die Grenze bis an die Grenze ihres Seins; sie bringt sie dazu, im Moment ihres drohenden Verschwindens aufzuwachen, um sich in dem wiederzufinden, was sie ausschließt (genauer vielleicht, sich darin zum ersten Mal zu erkennen), und um ihre tatsächliche Wahrheit in der Bewegung ihres Untergangs zu erfahren. Und dennoch, woraufhin entfesselt sich die Überschreitung in dieser Bewegung reiner Gewalt, wenn nicht auf dasjenige, was sie fesselt, auf die Grenze und auf das, was sich darin eingeschlossen findet? Wogegen richtet sich ihr Einbruch, und welcher Leere verdankt sie die freie Fülle ihres Seins, wenn nicht genau dem, was sie mit ihrer gewaltsamen Geste überquert und was sie in dem Strich, den sie austilgt, zu durchkreuzen wählt?
Die Überschreitung ist somit nicht für die Grenze, was das Schwarze für das Weiße, das Verbotene für das Erlaubte, das Äußere für das Innere, das Ausgeschlossene für den geschützten Raum der festen Bleibe ist. Sie ist ihr eher durch ein bohrendes Verhältnis verbunden, mit dem kein einfacher Einbruch zu Rande kommen kann. Vielleicht ist Überschreitung so etwas wieder Blitz in der Nacht, der vom Grunde der Zeit dem, was sie verneint, ein dichtes und schwarzes Sein verleiht, es von innen heraus und von unten bis oben erleuchtet und dem er dennoch seine Einzigartigkeit verdankt. Er verliert sich in dem Raum den sie in ihrer Souveränität bezeichnet, und verfällt schließlich in Schweigen, nachdem er dem Dunkel einen Namen gab.
Um diese so reine und so verwickelte Existenz zu denken, sie von sich aus und in dem von ihr hervorgehobenen Raum zu denken, muss man sie aus ihren zweifelhaften Verwandtschaften mit der Ethik herauslösen und sie vom Skandalösen oder Subversiven befreien, das heißt von dem, was von der Macht des Negativen beseelt ist. Die Überschreitung ist eine Gegenüberstellung von nichts mit nichts, sie lässt nichts lächerlich werden, versucht nicht, die Tragfähigkeit der Fundamente zu erschüttern; sie unternimmt nichts, um der anderen Seite des Spiegels jenseits der unsichtbaren und unüberwindlichen Linie zu neuem Glanz zu verhelfen. Eben weil sie weder Gewalt in einer geteilten Welt ist (in einer ethischen Welt) noch Triumph über die Grenzen, die sie auslöscht (in einer dialektischen oder revolutionären Welt), macht sie sich im Inneren der Grenze das maßlos Maß der Distanz zu Eigen, die sich dort eröffnet und den leuchtenden Strich zieht, der sie sein lässt. Nichts ist in der Überschreitung negativ. Sie bejaht das begrenzte Sein, sie bejaht dieses Unbegrenzte, in das sie hineinspringt und erstmals für die Existenz öffnet. Dennoch kann man sagen, dass diese Bejahung nichts Positives hat: Kein Inhalt kann sie binden, da per definitionem keine Grenze sie zurückhalten kann. Vielleicht ist sie nichts anderes als die Bejahung der Teilung. Allerdings sollte man dieses Wort von allem entlasten, was an die Geste des Bruchs oder and die Herbeiführung einer Trennung oder an das Maß einer Abweichung erinnern kann und ihr allein das lassen, was in ihr das Sein der Differenz bezeichnen kann.“
[Foucault, Michel: Dits et Ecrits I]
18 September, 2008
Michel Foucault: angenommen der Wahnsinn existiert nicht
Nichtexistenz als Methode?
Michel Foucault in der Vorlesung vom 10. Januar 1979:
"Die Methode bestand darin, zu sagen: Angenommen, der Wahnsinn existiert nicht. Was ist dann die Geschichte, die man anhand dieser verschiedenen Ereignisse, dieser verschiedenen Praktiken schreiben kann, die sich anscheinend um diese unterstellte Sache, den Wahnsinn, gruppieren? Ich möchte hier also genau das Gegenteil des Historizismus tun. Also nicht die Universalien befragen, indem ich als kritische Methode die Geschichte verwende, sondern von der Entscheidung der Nichtexistenz der Universalien ausgehen, um die Frage zu stellen, was für eine Geschichte man schreiben könnte."
[Michel Foucault: die Geburt der Biopolitik]
Der foucaultsche Werkzeugkasten
17 September, 2008
Michel Foucault: die Grenze unseres Denkens
[Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge]
13 September, 2008
Michel Foucault: sich selbst verwandeln
"Ich kümmere mich in keiner Weise um den universitären Status dessen, was ich tue, weil mein Problem meine eigene Verwandlung ist. Das ist auch der Grund, warum ich, wenn die Leute zu mir sagen: 'Vor einigen Jahren dachten Sie jenes, und jetzt behaupten Sie etwas anderes', antworte: 'Glauben Sie, dass ich während all dieser Jahre so viel gearbeitet habe, um dasselbe zu sagen und nicht verwandelt zu werden?' Diese Selbstverwandlung durch das eigene Wissen ist, glaube ich, etwas, das der ästhetischen Erfahrung recht nahe ist. Warum würde ein Maler arbeiten, wenn er nicht durch seine Malerei verwandelt wird?"
[Michel Foucault: Dits et Ecrits IV]
Michel Foucault: an die eigene Identität gefesselt
Allgemein kann man sagen, daß es drei Typen von Kämpfen gibt: die gegen Formen der (ethische, sozialen und religiösen) Herrschaft; die gegen Formen der Ausbeutung, die das Individuum von dem trennen, was es produziert; die gegen all das, was das Individuum an sich selber fesselt und dadurch anderen unterwirft (Kämpfe gegen Subjektivierung, gegen Formen von Subjektivitänt und Unterwerfung)."
[Michel Foucault: Warum ich die Macht untersuche: Die Frage des Subjekts]
09 September, 2008
Michel Foucault: dazu verdammt die Wahrheit zu gestehen ...
Michel Foucault in der Vorlesung vom 14. Januar 1976 über das Verhältnis von Macht und Wahrheit:
"Wir sind gezwungen, Wahrheit mit Hilfe der Macht, die diese Wahrheit verlangt und zu ihrem Funktionieren benötigt, zu produzieren; wir müssen die Wahrheit sagen, wir werden dazu gezwungen, wir sind dazu verdammt, die Wahrheit zu gestehen oder sie zu finden. Die Macht hört nicht auf zu fragen, uns zu befragen; sie hört nicht auf zu untersuchen, zu registrieren; sie institutionalisiert die Suche nach der Wahrheit, professionalisiert sie und entschädigt dafür. Wir müssen die Wahrheit produzieren, wie wir Reichtümer produzieren müssen, ja, wir müssen die Wahrheit produzieren, um Reichtümer produzieren zu können. Und andererseits sind wir auch der Wahrheit unterworfen, in dem Sinne, daß die Wahrheit Gesetz macht; es ist der wahre Diskurs, der zumindest teilweise entscheidet und Machtwirkungen mit sich führt und vorantreibt. Schließlich werden wir beurteilt, verurteilt, klassifiziert und zu Aufgaben gezwungen, wird uns eine bestimmte Art zu leben oder zu sterben entsprechend wahrer Diskurse mit spezifischen Machtwirkungen auferlegt."
[Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft]
06 September, 2008
Text als Hirnoperation
Operationsmesser in meinem Hirnstollen hin und wieder, wenn ich Texte von Ihnen lese, manchmal auch Feuerwerke. Mit dem Verkohlen bin ich allerdings nicht einverstanden. Aber vielleicht meint Verkohlen auch etwas anderes, kein Original. Zitiertes Verkohlen? Lesen und nicht darauf rumreiten, welches die beste, genaueste oder richtigste Interpretation des Textes ist, sondern lesen und sich inspirieren lassen. Werkzeugkiste eben ...
Fehlt noch die Frage nach dem wirklichen Kampf. Was das Schreiben angeht, haben Sie vollkommen recht, deshalb genug für heute.