22 Oktober, 2009

Foucault: die polymorphen Techniken der Macht und der Wille zum Wissen

"Daher wird es darauf ankommen zu wissen, in welchen Formen, durch welche Kanäle und entlang welcher Diskurse die Macht es schafft, bis in die winzigsten und individuellsten Verhaltensweisen vorzudringen, welche Wege es ihr erlauben, die seltenen und unscheinbaren Formen der Lust zu erreichen und auf welche Weise sie die alltägliche Lust durchdringt und kontrolliert - und das alles mit Wirkungen, die als Verweigerung, Absperrung und Disqualifizierung auftreten können, aber auch als Anreizung und Intensivierung; kurz, man muß die 'polymorphen Techniken der Macht' erforchen. Und schließlich wird es nicht darauf ankommen zu bestimmen, ob die diskursiven Produktionen und die Machtwirkungen tatsächlich die Wahrheit des Sexes an den Tag bringen ode raber Lügen, die sie verdunkeln, sondern darauf, den 'Willen zum Wissen' freizulegen, der ihnen gleichzeitig als Grundlage und Insturment dient."
[Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I]

02 September, 2009

Michel Foucault erklärt seine Archäologie

„Mit ‚Archäologie’ meine ich kein Fachgebiet, sondern ein Forschungsfeld, das etwa folgendermaßen aussieht:
Kenntnisse, philosophische Ideen und Alltagsansichten einer Gesellschaft, aber auch ihre Institutionen, die Geschäfts- und Polizeipraktiken oder die Sitten und Gebräuche verweisen auf ein implizites Wissen, das dieser Gesellschaft eigen ist. Dieses Wissen unterscheidet sich tiefgreifend von dem Wissen, das man in wissenschaftlichen Büchern, philosophischen Theorien und religiösen Rechtfertigungen finden kann, aber erst dieses Wissen macht es möglich, dass zu einer bestimmten Zeit eine Theorie, eine Meinung oder eine Praxis aufkommt. So musste erst ein bestimmtes Wissen über Wahnsinn und Nichtwahnsinn, über Ordnung und Unordnung vorhanden sein, damit Ende des 18. Jahrhunderts überall in Europa die großen Einschließungszentren entstehen konnten, und genau dieses Wissen wollte ich untersuchen, als Bedingung der Möglichkeit von Kenntnissen, Institutionen und Praktiken.
Solch ein Forschungsstil ist für mich deshalb interessant, weil dabei das Problem vermieden werden kann, ob die Theorie der Praxis vorausgegangen ist oder umgekehrt. Ich behandle Praktiken, Institutionen und Theorien auf derselben Ebene nach ihren jeweiligen Isomorphien und suche das gemeinsame Wissen, das sie möglich gemacht hat, die Schicht des konstitutiven historischen Wissens. Statt dieses Wissen aus der Sicht des ‚Praktisch-Passiven’ zu erklären, bemühe ich mich um eine Analyse des ‚Theoretisch-Aktiven’, wie ich es nennen würde.“
[Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Gespräch mit R. Bellour, Dits et Ecrits I]

27 August, 2009

Foucault: Der Körper als erstes Objekt des Kapitalismus

"Ich vertrete die Hypothese, dass man mit dem Kapitalismus nicht von einer kollektiven zu einer privaten Medizin übergegangen ist, sondern dass genau das Gegenteil geschehen ist; der Kapitalismus, der sich Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunders entwickelt, hat zunächst einmal ein erstes Objekt vergesellschaftet, den Körper, in seiner Funktion als Produktiv- oder Arbeitskraft. Die Kontrolle der Gesellschaft über die Individuen wird nicht nur über das Bewusstsein oder durch die Ideologie, sondern eenso im Körper und mit dem Körper vollzogen. Für die kapitalistische Gesellschaft war vor allem die Bio-Politik wichtig, das Biologische, das Somatische und das Körperliche. Der Körper ist eine bio-politische Wirklichkeit; die Medizin ist eine bio-politische Strategie."
[Michel Foucault: Die Geburt der Sozialmedizin, Dits et Ecrits III]

25 Juni, 2009

Zum 25. Todestag von Michel Foucault

Monsieur Foucault, an dieser Stelle nur einen kurzen Gruß anläßlich Ihres 25. Todestages. Statt Sie mit einem schwülstig ausufernden Nachruf zu beglücken, stürze ich mich in Theorie. Hochachtungsvoll ... Zara

07 Juni, 2009

Foucault-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung

rezensiert von Zara Pfeiffer


Clemens Kammler/Rolf Parr/
Ulrich Johannes Schneider (Hrsg.)


Foucault-Handbuch
Leben - Werk - Wirkung
Unter Mitarbeit von Elke Reinhardt-Becker
J. B. Metzler Verlag
Stuttgart 2008
454 S., Gebunden
Preis: EUR 49,95
ISBN: 978-3-476-02192-2



Welches Verhältnis hatten Foucault und Lacan? Wie beziehen sich Agamben und Negri auf Foucault? Was sagt Foucault zum Geschlecht? Und wie wird Foucault in der Soziologie oder Psychoanalyse rezipiert? Für genau solche Fragen ist das von Clemens Kammler, Rolf Parr und Ulrich Johannes Schneider im J.B. Metzler Verlag herausgegebene Foucault-Handbuch hervorragend geeignet. Die einzelnen Aufsätze haben eine Länge, die es erlaubt den jeweiligen Punkt auf hohem Niveau abzuhandeln, und sind gleichzeitig kurz genug, um beim Auftauchen einer solchen Frage, sofort komplett gelesen zu werden.

Die Struktur des Foucault-Handbuchs überzeugt und hält, was der Untertitel mit den Schlagworten Leben – Werk – Wirkung verspricht. Der erste Punkt Leben ist auf 8 Seiten angenehm kurz gehalten und verweist am Ende auf ausführlichere Biographien Foucaults.
Das Werk Foucaults wird in den Kapiteln II bis IV abgehandelt. Das zweite Kapitel Werke und Werkgruppen gibt eine systematische Übersicht über die einzelnen Hauptwerke, die Dits et Écrits und die Vorlesungen Foucaults. Das dritte Kapitel Kontexte befasst sich mit den maßgeblichen Referenzautoren Foucaults wie Kant, Hegel, Marx, Nietzsche und Heidegger. Die zeitgenössischen Bezüge in Frankreich wie die Phänomenologie und der Existentialismus, das Denken Louis Althussers, Jacques Lacans, Gilles Deleuzes und Jacques Derridas bekommen ebenso ihren Platz wie wichtige Anschlüsse an Foucault wie Judith Butler, Giogio Agamben, Antonio Negri sowie die Interdiskurstheorie und –analyse. Außerdem werden die Überschneidungen und Differenzen zwischen den Denken Foucaults und der Kritischen Theorie, von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann behandelt. Im dritten Kapitel werden schließlich eine Auswahl der zentralen Begriffe und Konzepte Foucaults behandelt. Hier finden sich Aufsätze über die Archäologie, das Archiv und die Biomacht/Biopolitik über den Diskurs, die Genealogie und die Gouvernementalität bis hin zum Körper, dem Panoptimus und der Selbstsorge/Selbsttechnologie, um eine kleine Auswahl zu nennen.
Unter dem Stichwort Rezeption wird im fünften Kapitel die Wirkung des Foucaultschen Denkens in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beleuchtet. Neben den klassischen Disziplinen wie zum Beispiel Philosophie, Geschichtswissenschaften, Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie enthält dieses Kapitel auch Aufsätze zur Rezeption Foucaults in der Sportwissenschaft, den Gender Studies und dem Feminismus, den Disability Studies und den Governmentality Studies.
Der Anhang umfasst eine Zeittafel, eine ausführliche Bibliographie der Primärtexte von Foucault und einer – leider etwas kurz geratenen – Auswahlbibliographie von Sekundärtexten, die Autor_innen des Bandes sowie ein Personenregister des Foucault-Handbuches.

In der Vielzahl von Einführungen und einführenden Sammelbänden zu Michel Foucault sticht das Foucault-Handbuch sehr positiv hervor. Es eignet sich, um den Einstieg in das Denken Foucaults zu erleichtern, als parallele Lektüre zu den Primärtexten Foucaults, sowie als Nachschlagewerk und Ausgangspunkt, um tiefer in das Denken Foucaults einzusteigen. Sämtliche Artikel schließen mit einer kurzen Bibliographie der wichtigsten Forschungsbeiträge zum jeweiligen Thema. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Textstellen zum jeweiligen Thema wäre an dieser Stelle sicher auch hilfreich gewesen. Ebenso fehlt dem angehängten Personenregister am Ende eine entsprechendes Sachregister.

Alles in allem finde ich dieses Foucault Handbuch richtig gut. Es steht jetzt schon einige Wochen bei mir im Regal und ich habe wiederholt einzelne Punkte nachgelesen und bin dabei nicht selten hängengeblieben und habe einfach weitergelesen. Den doch stolzen Preis von 49,95 Euro ist es in jedem Fall wert.

10 Mai, 2009

Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie

Für alle, die beim Begriff Genealogie immer noch nur an Stammbäume denken:
Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie:

"Die Genealogie kann darum nicht umhin, sich zu bescheiden: sie hat die Einmaligkeit der Ereignisse unter Verzicht auf eine monotone Finalität ausfindig zu machen; sie muß den Ereignissen dort auflauern, wo man sie am wenigsten erwartet und wo sie keine Geschichte zu haben scheinen - in den Gefühlen, der Liebe, dem Gewissen, den Instinkten; sie muß ihre Wiederkunft erfassen, nicht um die langsame Kurve der Entwicklung nachzuzeichnen, sondern um die verschiedenen Szenen wiederzufinden, auf welchen die Ereignisse verschiedene Rollen gespielt haben; [...] Die Genealogie verlangt also die peinliche Genauigkeit des Wissens, eine Vielzahl angehäufter Materialien, Geduld. [...] Sie ist also eine mit erbitterter Konsequenz betriebene Gelehrsamkeit. Die Genealogie verhält sich zur Historie nicht wie die hohe (und tiefe) Sicht des Philosophen zum Maulwurfblick des Gelehrten; vielmehr steht sie im Gegensatz zur metahistorischen Entfaltung der idealen Bedeutungen und unbegrenzten Teleologien. Sie steht im Gegensatz zur Suche nach dem 'Ursprung'."

"Wenn aber der Genealoge auf die Geschichte horchen will, anstatt der Metaphysik Glauben zu schenken, was erfährt er dann? Daß es hinter allen Dingen 'etwas anderes' gibt: nicht ihr wesenhaftes und zeitloses Geheimnis, sondern das Geheimnis, daß sie ohne Wesen sind oder daß ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren, die ihm fremd waren, aufgebaut worden sind."

"Die Analyse der Herkunft führt zur Auflösung des Ich und läßt an den Orten und Plätzen seiner leeren Synthese tausend verlorene Ereignisse wimmeln. Die Analyse der Herkunft führt uns auch zu den unzähligen Ereignissen zurück, durch die (dank denen und gegen die) sich ein Begriff oder ein Charakter gebildet haben. Die Genealogie geht nicht in die Vergangenheit zurück, um eine große Kontinuität jenseits der Zerstreuung des Vergessenen zu errichten. Sie soll nicht zeigen, daß die Vergangenheit noch da ist, daß sie in der Gegenwart noch lebt und sie insgeheim belebt, nachdem sie allen Zeitläufen eine von Anfang an feststehende Form aufgedrückt hat. Nichts gleicht hier der Entwicklung einer Spezies oder dem Geschick eines Volkes. Dem komplexen Faden der Herkunft nachgehen heißt vielmehr das festhalten, was sich in ihrer Zerstreuung ereignet hat: die Zwischenfälle, die winzigen Abweichungen oder auch die totalen Umschwünge, die Irrtümer, die Schätzungsfehler, die falschen Rechnungen, die das entstehen ließen, was existiert für uns Wert hat. Es gilt zu entdecken, daß an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit und das Sein steht, sondern die Äußerlichkeit des Zufälligen. Darum verdient jeder Ursprung der Moral, sofern er nicht mehr verehrungswürdig ist - und die Herkunft ist es niemals - Kritik."

"Die genealogisch aufgefaßte Historie will nicht die Wurzeln unserer Identität wiederfinden, vielmehr möchte sie sie in alle Winde zerstreuen; sie will nicht den heimatlichen Herd ausfindig machen, von dem wir kommen, jenes erste Vaterland, in das wir den Versprechungen der Metaphysiker zufolge zurückkehren werden; vielmehr möchte sie alle Diskontinuitäten sichtbar machen, die uns durchkreuzen."
[Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, Dits et Ecrits II]

Die Genealogie und die Suche nach dem Ursprung

29 April, 2009

Foucault über Biomacht und Rassismus

Die Vorlesung vom 17. März 1976 auf einen Blick
(für alle die zu faul sind sie zu lesen):


Wordle: Michel Foucault: Vorlesung vom 17. März 1976


Noch ein Foucault-Wordle: Die Praxis der Freiheit

28 April, 2009

Michel Foucault: Das Spiel ist deshalb lohnend, weil wir nicht wissen, was am Ende dabei herauskommen wird


nicht vergessen ...

"Ich halte es nicht für erforderlich, genau zu wissen, was ich bin. Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war. Wenn Sie ein Buch beginnen und wissen schon am Anfang, was Sie am Ende sagen werden, hätten Sie dann noch den Mut, es zu schreiben? Was für das Schreiben gilt und für eine Liebesbeziehung, das gilt für das Leben überhaupt. Das Spiel ist deshalb lohnend, weil wir nicht wissen, was am Ende dabei herauskommen wird."
[Foucault, Dits et Ecrits IV]

22 April, 2009

Michel Foucault: Macht als Beziehungen der Gouvernementalität

"Als ich begann, mich explizit für die Macht zu interessieren, geschah das keineswegs, um aus der Macht so etwas wie eine Substanz oder wie ein mehr oder weniger unheilvolles Fluidum zu machen, das sich im Gesellschaftskörper ausbreiten würde, mitsamt der Frage, ob es von oben oder von unten kommt. Ich habe einfach nur mit einer allgemeinen Frage ansetzen wollen: 'Was sind Machtbeziehungen?' Die Macht, das sind im wesentlichen Beziehungen, das heißt das, was es macht, dass die Individuen, die menschlichen Wesen untereinander in Beziehung sind, nicht einfach nur in der Form der Kommunikation eines Sinns, nicht einfach nur in der Form des Begehrens, sondern gleichermaßen in einer anderen Form, die es ihnen erlaubt, aufeinander einzuwirken und, wenn Sie so möchten, indem ich diesem Wort einen sehr weiten Sinn gebe, einander zu 'regieren' [gouverner]. Die Eltern regieren die Kinder, die Mätresse regiert ihren Liebhaber, der Lehrer regiert, usw. Man regiert einander in einer Konversation mittels einer ganzen Reihe von Taktiken. Ich glaube, dass dieses Feld von Beziehungen sehr wichtig ist, und genau das habe ich als Problem aufwerfen wollen. [...]
Ich habe eines Tages die Formulierung 'Die Macht kommt von unten' gebraucht. Ich habe das sofort erklärt, aber selbstversändlich kommt dabei heraus: 'Die Macht ist eine hässliche Krankheit, man darf nicht glauben, dass sie einen am Kopf erwischt, sondern sie arbeitet sich in Wirklichkeit von den Fußsohlen her nach oben.' Das ist offensichtlich nicht das, was ich sagen wollte. Ich habe mich an anderer Stelle bereits dazu erklärt, aber ich komme auf die Erklärung zurück. Wenn man nämlich die Frage der Macht in einer Terminologie von Machtbeziehungen stellt, wenn man also einräumt, dass es zwischen den Individuen Beziehungen der 'Gouvernementalität', eine Menge, ein sehr komplexes Netz von Beziehungen gibt, dann sind die großen Formen der Macht im strengen Sinne des Ausdrucks - politische Macht, ideologische Macht usw. - notwendig in dieser Art Beziehungen, das heißt den Beziehungen des Regierens und des Führens, die sich zwischen den Menschen herstellen können. Und wenn es nicht eine gewisse Art Beziehung wie diese gibt, dann kann es auch nicht bestimmte weitere Arten großer politischer Strukturierungen geben."
[Michel Foucault: Der Intellektuelle und die Mächte]

Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität

19 April, 2009

Michel Foucault über Biomacht und Rassismus: Vorlesung vom 17. März 1976

Die Vorlesung vom 17. März 1976, in der Foucault die Begriffe Biomacht und Biopolitik einführt und über den Rassismus spricht. Erschienen bei Suhrkamp: Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), aus dem Französischen von Michaela Ott, Frankfurt/M. 1999, S. 276-305.

Hier ein paar Zitate:

"Und ich denke, dass eine der nachhaltigsten Transformationen des politischen Rechts im 19. Jahrhundert darin bestand, dieses alte Recht der Souveränität sterben zu machen oder leben zu lassen zwar nicht unbedingt zu ersetzen, aber durch ein anderes neues Recht zu ergänzen, durch ein Recht, das ersteres nicht beseitigt, sondern in es eindringt, es durchdringt, verändert und das ein Recht oder vielmehr eine genau umgekehrte Macht ist: die Macht, leben zu »machen« und sterben zu »lassen«. Das Recht der Souveränität besteht demgemäß darin, sterben zu machen oder leben zu lassen. Danach installiert sich dieses neue Recht: das Recht, leben zu machen und sterben zu lassen."

"Ich möchte diese Veränderung nicht auf der Ebene der politischen Theorie, sondern eher der Mechanismen, der Techniken und Machttechnologien verfolgen. Dabei stößt man auf vertraute Dinge: im 17. und 18. Jahrhundert sieht man Machttechniken entstehen, die wesentlich auf den Körper, den individuellen Körper gerichtet waren. All diese Prozeduren ermöglichten die räumliche Verteilung der individuellen Körper (ihre Trennung, ihre Ausrichtung, ihre Serialisierung und Überwachung) und die Organisation eines ganzen Feldes der Sichtbarkeit rund um diese individuellen Körper. Mit Hilfe dieser Techniken vereinnahmte man die Körper, versuchte man ihre Nutzkraft durch Übung, Dressur usw. zu verbessern. Es handelte sich zugleich um Techniken der Rationalisierung und der strikten Ökonomie einer Macht, die auf am wenigsten kostspielige Weise mittels eines gesamten Systems der Überwachung, der Hierarchie, Kontrolle, Aufzeichnung und Berichte ausgeübt werden sollte: Diese gesamte Technologie wird man als Disziplinartechnologie der Arbeit bezeichnen. Sie wurde mit dem ausgehenden 17. und im Laufe des 18. Jahrhunderts installiert."

"In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehen wir, wie mir scheint, etwas Neues auftreten, das eine andere, diesmal nicht-disziplinäre Machttechnologie darstellt. Eine Machttechnologie, die erstere nicht ausschließt, die die Disziplinartechnik nicht ausschließt, sondern sie umfaßt, integriert, teilweise modifiziert und sie vor allem benutzen wird, indem sie sich in gewisser Weise in sie einfügt und dank dieser vorgängigen Disziplinartechnik wirklich festsetzt. Diese neue Technik unterdrückt die Disziplinartechnik nicht, da sie ganz einfach auf einer anderen Ebene, auf einer anderen Stufe angesiedelt ist, eine andere Oberflächenstruktur besitzt und sich anderer Instrumente bedient.
Diese neue Technik der nicht-disziplinären Macht lässt sich nun im Gegensatz zur Disziplin, die sich auf den Körper richtet auf das Leben der Menschen anwenden; sie befasst sich, wenn Sie so wollen, nicht mit dem Körper-Menschen, sondern dem lebendigen Menschen, dem Menschen als Lebewesen, und letztendlich, wenn Sie so wollen, dem Gattungsmenschen. Genauer gesagt versucht die Disziplin die Vielfalt der Menschen zu regieren, insofern diese Vielfalt sich in individuelle, zu überwachende, zu dressierende, zu nutzende, gegebenenfalls zu bestrafende Körper unterteilen lässt. Die neue Technologie dagegen richtet sich an die Vielfalt der Menschen, nicht insofern sie sich zu Körpern zusammenfassen lassen, sondern insofern diese im Gegenteil eine globale Masse bilden, die von dem Leben eigenen Gesamtprozessen geprägt sind wie Prozessen der Geburt, des Todes, der Produktion, Krankheit usw. Nach einem ersten Machtzugriff auf den Körper, der sich nach dem Modus der Individualisierung vollzieht, haben wir einen zweiten Zugriff der Macht, nicht individualisierend diesmal, sondern massenkonstituierend, wenn Sie so wollen, der sich nicht an den Körper-Menschen, sondern an den Gattungs-Menschen richtet. Nach der Anatomie-Politik des menschlichen Körpers, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbreitete, sehen wir am Ende dieses Jahrhunderts etwas auftreten, das keine Anatomie-Politik des menschlichen Körpers mehr ist, sondern etwas, das ich als »Biopolitik« der menschlichen Gattung bezeichnen würde."

"Worum geht es in dieser neuen Technologie der Macht, in dieser Biopolitik, in dieser Bio-Macht, die sich durchzusetzen beginnt? Ich habe es vorhin in zwei Worten gesagt: es handelt sich um eine Gesamtheit von Prozessen wie das Verhältnis von Geburt- und Sterberaten, den Geburtenzuwachs, die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung usf. Diese Prozesse der Geburten- und Sterberate, der Lebensdauer haben gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Verbindung mit einer ganzen Menge ökonomischer und politischer Probleme (auf die ich jetzt nicht eingehe) die ersten Wissensobjekte und die ersten Zielscheiben biopolitischer Kontrolle abgegeben. Auf jeden Fall verwirklicht man zu diesem Zeitpunkt mit den ersten demographischen Erhebungen die statistische Messung dieser Phänomene. Es handelt sich um die Beobachtung von mehr oder weniger spontanen und planvollen Verfahren, die in der Bevölkerung in Bezug auf die Natalität durchgeführt wurden; es geht, wenn Sie so wollen, um die Ermittlung von Phänomenen der Geburtenkontrolle, wie sie im 18. Jahrhundert praktiziert wurde. Es kommt nun im Ansatz zu einer Geburtenpolitik oder jedenfalls zu Interventionsschemata in diese globalen Phänomene der Geburtenrate. In dieser Biopolitik handelt es sich nicht einfach um das Problem der Fruchtbarkeit. Es geht auch um das Problem der Sterblichkeit, nicht mehr einfach, wie es bis dahin der Fall war, auf der Ebene jener berühmten Epidemien, deren Gefahr die politischen Mächte seit dem tiefen Mittelalter so sehr bedrohte (die berühmten Epidemien, die vorübergehende Dramen des vervielfachten Todes, des allen drohenden Todes waren). Zu diesem Zeitpunkt gegen Ende des 18. Jahrhunderts geht es sich nicht um Epidemien, sondern um etwas anderes, das man Endemien nennen könnte, das heißt die Form, Natur, Ausdehnung, Dauer und Intensität der in einer Bevölkerung herrschenden Krankheiten. Mehr oder weniger schwer ausrottbare Krankheiten, die anders als die Epidemien nicht unter dem Blickwinkel zunehmender Todesursachen betrachtet werden, sondern als permanente Faktoren so werden sie behandelt des Entzugs von Kräften, der Verminderung der Arbeitszeit, des Energieverlustes und ökonomischer Kosten, und zwar ebensosehr aufgrund des von ihnen produzierten Mangels wie der Pflege, die sie kosten können. Kurz, Krankheit als Bevölkerungsphänomen: nicht mehr als Tod, der sich brutal auf das Leben legt das ist die Epidemie , sondern als permanenter Tod, der in das Leben hineinschlüpft, es unentwegt zerfrisst, es mindert und schwächt."

"Es geht um das Konzept der »Bevölkerung«. Die Biopolitik hat es mit der Bevölkerung, mit der Bevölkerung als politischem Problem, als zugleich wissenschaftlichem und politischem Problem, als biologischem und Machtproblem zu tun ich denke, dass dies der Augenblick ist, in dem sie in Erscheinung tritt."


"Diesseits dieser großen absoluten, dramatischen und dunklen Macht der Souveränität, die darin bestand, sterben zu machen, tritt jetzt mit dieser Technologie der Biomacht, dieser Technologie der Macht über »die« Bevölkerung als solche, über den Menschen als Lebenwesen, eine dauerhafte und gelehrte Macht hervor: die Macht, »leben zu machen«. Die Souveränität machte sterben und ließ leben. Nun tritt eine Macht in Erscheinung, die ich als Regulierungsmacht bezeichnen würde und die im Gegenteil darin besteht, leben zu machen und sterben zu lassen."

"Ich möchte jetzt gerne die Unterscheidung zwischen der regulatorischen Technologie des Lebens und der disziplinären Technologie des Körpers, von der ich vorhin gesprochen habe, wiederaufgreifen. Seit dem 18. Jahrhundert (oder in jedem Fall seit dem Ende des 18. Jahrhunderts) gibt es zwei Machttechnologien, die sich in einem gewissen zeitlichen Abstand etabliert haben und sich überlagern. Zunächst die Disziplinartechnik: Sie richtet sich auf den Körper, sie produziert individualisierende Wirkungen, sie manipuliert den Körper als Zentrum von Kräften, die zugleich nützlich und gelehrig zu machen sind. Und auf der anderen Seite haben wir eine Technologie, die sich nicht an den Körper, sondern an das Leben wendet; eine Technologie, die die einer Bevölkerung eigenen Masseneffekte zusammenfasst und die Serie der Zufallsereignisse, die in einer lebendigen Masse auftauchen können, zu kontrollieren sucht; eine Technologie, die danach strebt, deren Wahrscheinlichkeit zu kontrollieren (und gegebenenfalls zu modifizieren), in jedem Fall deren Wirkungen zu kompensieren. Es handelt sich um eine Technologie, die nicht durch individuelle Dressur, sondern durch globales Gleichgewicht auf etwas wie Homöostase zielt: auf die Sicherheit des Ganzen vor seinen inneren Gefahren. Mithin eine Dressurtechnologie im Gegensatz zu und unterschieden von einer Sicherheitstechnologie; eine Disziplinartechnologie, die sich von einer Versicherungs- oder Regulierungstechnologie unterscheidet: eine Technologie, die zwar in beiden Fällen eine Technologie des Körpers ist, wo es sich aber in dem einen Fall um eine Technologie handelt, in der der Körper als mit Fähigkeiten ausgestatteter Organismus individualisiert wird, und im anderen um eine Technologie, in der die Körper durch die biologischen Gesamtprozesse ersetzt werden."

"Wir haben also zwei Serien: die Serie Körper Organismus Disziplin Institutionen; und die Serie Bevölkerung biologische Prozesse Regulierungsmechanismen* Staat."

"Nehmen Sie einen ganz anderen – freilich nicht völlig anderen, nicht vollständig anderen – Bereich; nehmen Sie auf einer anderen Achse so etwas wie die Sexualität. Warum wird die Sexualität im 19. Jahrhundert zu einem Bereich, dessen strategische Bedeutung sehr groß ist? Wenn die Sexualität wichtig war, dann aus verschiedenen Gründen, vor allem aber aus folgenden: Einerseits ergibt sich die Sexualität als körperliches Verhalten aus einer individualisierenden Disziplinarkontrolle in der Form permanenter Überwachung (ab dem Ende des 18. Jahrhunderts hat man beispielsweise begonnen, die Kinder den berühmten Kontrollen der Masturbation auszusetzen und zwar im familiären Bereich, im schulischen Bereich usf.; sie stellen genau diese Seite der disziplinären Kontrolle der Sexualität dar); daneben fügt sich die Sexualität dank ihrer Fortpflanzungseffekte gleichzeitig in die umfassenden biologischen Prozesse ein, die nicht mehr den Körper des Individuums, sondern jenes Element, jene multiple Einheit betreffen, die die Bevölkerung ist. Die Sexualität befindet sich an der Kreuzung von Körper und Bevölkerung. Folglich gehört sie zur Disziplin, aber auch zur Regulierung."


"Noch allgemeiner lässt sich sagen, dass das Element, das vom Disziplinären zum Regulatorischen verläuft und sich auf dieselbe Weise auf den Körper und die Bevölkerung bezieht und zugleich die Kontrolle der disziplinären Ordnung des Körpers und der Zufallsereignisse einer biologischen Vielfalt erlaubt, dass dieses Element, das vom einen zum anderen zirkuliert, die »Norm« ist. Die Norm, das ist das, was sich auf einen Körper, den man disziplinieren will, ebensogut anwenden lässt wie auf eine Bevölkerung, die man regulieren will. Die Normalisierungsgesellschaft ist, so gesehen, nicht eine Art verallgemeinerter Disziplinargesellschaft, deren Disziplinarinstitutionen sich ausgebreitet und die schließlich den gesamten Raum abgedeckt hätten – dies ist nur eine erste und, wie ich denke, unzureichende Interpretation der Idee der Normalisierungsgesellschaft. Die Normalisierungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden. Wenn man behauptet, dass die Macht im 19. Jahrhundert vom Leben Besitz ergriffen hat oder zumindest, dass die Macht im 19. Jahrhundert das Leben in Beschlag genommen hat, heißt das, dass es ihm gelungen ist, die gesamte Oberfläche abzudecken, die sich vom Organischen zum Biologischen, vom Körper zur
Bevölkerung dank des doppelten Spiels der Disziplinartechnologien einerseits, der Regulierungstechnologien andererseits erstreckt."

Die komplette Vorlesung vom 17. März 1976 lässt sich auch online lesen:
http://www.momo-berlin.de/Foucault_Vorlesung_17_03_76.html

11 April, 2009

Michel Foucault: Die Wut über die Tatsachen

"Was hat sich in unseren Köpfen abgespielt, in den letzten fünfzehn Jahren? In einem ersten Anlauf würde ich sagen: ein wütender Schmerz, eine ungeduldige, aufgebrachte Sensibilität für das, was sich abspielt, eine Intoleranz gegen die theoretische Rechtfertigung und die ganze schleichende Beruhigungsarbeit, die der „wahre" Diskurs Tag für Tag leistet. Vor dem Hintergrund des bläßlichen Dekors, den die Philosophie, die Poltische Ökonomie und soviel andere schöne Wissenschaften aufgebaut hatten, haben sich plötzlich Irre erhoben und Kranke, Frauen und Kinder, Gefangene, Gemarterte und Tote zu Millionen. Gott weiß wohl, dass wir mit Theoremen, Prinzipien und Wörtern gewappnet waren, um all das zu zerbröseln. Welcher Appetit auf einmal, diese so nahen Fremden zu sehen und zu hören? Welche Besorgnis um so unfeine Dinge? Wir sind von der Wut über die Tatsachen gepackt worden. Wir haben aufgehört, die zu ertragen, die uns sagten – oder vielmehr das Getuschel in uns, das sagte: 'Macht nichts, eine Tatsache für sich allein wird nie etwas sein; höre, lies, warte; das wird sich ferner, später, höher erklären'."
[Michel Foucault: Dispositive der Macht, S. 217]

27 Februar, 2009

Michel Foucault: nicht dermaßen regiert werden! Oder: Was ist Kritik?


„Als erste Definition der Kritik schlage ich also die allgemeine Charakterisierung vor: die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden."

„Vor allem aber sieht man, daß der Entstehungsherd der Kritik im wesentlichen das Bündel der Beziehungen zwischen der Macht, der Wahrheit und dem Subjekt ist. Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen – und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragten und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung."
[Michel Foucault: Was ist Kritik?]

Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität
Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung
Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik
Zara kommentiert: Die Gouvernementalität
Zara kommentiert: Die Gouvernementalität als Werkzeug

25 Februar, 2009

Michel Foucault: Macht-Wissen

„Das Wort Wissen wird also gebraucht, um alle Erkenntnisverfahren und -wirkungen zu bezeichnen, die in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Gebiet akzeptabel sind. Und zweitens wird der Begriff Macht gebraucht, der viele einzelne, definierte Mechanismen abdeckt, die in der Lage scheinen, Verhalten oder Diskurse zu induzieren. Offensichtlich haben diese beiden Begriffe nur eine methodologische Funktion: mit ihnen sollen nicht allgemeine Wirklichkeitsprinzipien ausfindig gemacht werden, es soll gewissermaßen die Analysefront, es soll der relevante Elemententyp fixiert werden. Auf diese Weise soll vermieden werden, daß von vornherein die Perspektive der Legitimierung eingeführt wird – wie das die Begriffe Erkenntnis und Herrschaft nahelegen. Jene beiden Worte sollen auch in jedem Moment der Analyse einen bestimmten Inhalt, ein bestimmtes Wissenselement, einen bestimmten Machtmechanismus präzis bezeichnen können; niemals darf sich die Ansicht einschleichen, daß ein Wissen oder eine Macht existiert – oder gar das Wissen oder die Macht, welche selbst agieren würden. Wissen und Macht - das ist nur ein Analyseraster. Und dieser Raster ist nicht aus zwei einander Fremden Kategorien zusammengesetzt – dem Wissen einerseits und der Macht andererseits (wie die gerade gebrauchten Formulierungen nahelegten). Denn nichts kann als Wissenselement auftreten, wenn es nicht mit einem System eines bestimmten wissenschaftlichen Diskurses in einer bestimmten Epoche, und wenn es nicht andererseits, gerade weil es wissenschaftlich oder rational oder einfach plausibel ist, zu Nötigungen oder Anreizungen fähig ist. Umgekehrt kann auch nichts als Machtmechanismus funktionieren, wenn es sich nicht in Prozeduren und Mittel-Zweck-Beziehungen entfaltet, welche in Wissenssystemen fundiert sind. Es geht also nicht darum, zu beschreiben, was Wissen ist und was Macht ist und wie das eine das andere unterdrückt oder mißbraucht, sondern es geht darum, einen Nexus von Macht-Wissen zu charakterisieren, mit dem sich die Akzeptabilität eines Systems – sei es das System der Geisteskrankheit, der Strafjustiz, der Delinquenz, der Sexualität usw. - erfassen läßt.
[Michel Foucault: Was ist Kritik?]

25 Januar, 2009

Die Genealogie und die Suche nach dem Ursprung

„1. Die Genealogie ist grau. Gewissenhaft und geduldig sichtet sie Dokumente, arbeitet an verwischen, zerkratzten, mehrmals überschriebenen Pergamenten.“

Mit diesen Worten beginnt Focault 1971 den Text, in dem er vielleicht am konzentriertesten über die Genealogie schreibt: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. Und für alle, die immer noch fragen, warum sie immer nur ihren Ausgangspunkt finden, wenn sie nach dem Ursprung suchen:

„Weil es bei solch einer Suche in erster Linie darum geht, das Wesen der Sache zu erfassen, ihre reinste Möglichkeit, ihre in sich gekehrte Identität, ihre unveränderliche, allem Äußerlichen, Zufälligen, Späteren vorausgehende Form. Wer solch einen Ursprung sucht, der will finden, 'was bereits war', das 'Eigentliche' eines mit sich selbst übereinstimmenden Bildes; er hält alle Wechselfälle, Listen und Verkleidungen für bloße Zufälle und will alle Masken lüften, um die eigentliche Identität zu enthüllen. Aber was erfährt der Genealoge, wenn er aufmerksam auf die Geschichte hört statt der Metaphysik zu glauben? Dass es hinter den Dingen `etwas ganz anderes' gibt: nicht deren geheimes, zeitloses Wesen, sondern das Geheimnis, dass sie gar kein Wesen haben oder dass ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren konstruiert wurde, die ihnen fremd waren. Wie die Vernunft entstanden ist? Natürlich auf ganz und gar 'vernünftige' Weise, nämlich durch einen Zufall. Die Hingabe an die Wahrheit und die Strenge der wissenschaftlichen Methoden? Aus den Leidenschaften der Wissenschaftler, aus ihrem wechselseitigem Hass, aus fanatischen, ständig wiederholten Debatten, aus dem Willen zum Sieg - Waffen, die im Verlauf langer persönlicher Kämpfe langsam geschmiedet wurden. Und die Freiheit? Ist sie das fundamentale Moment, das den Menschen an Sein und Wahrheit bindet? Nein, sie ist nur eine 'Erfindung von Ständen'. Am geschichtlichen Anfang der Dinge stößt man nicht auf die noch unversehrte Identität ihres Ursprungs, sondern auf Unstimmigkeit und Unterschiedlichkeit.“
[Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, Dits et Ecrits II]

Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie

16 Januar, 2009

Michel Foucault: Die Heterotopien / Der utopische Körper

Michel Foucault: Der utopische Körper / Die Heterotopien. Zwei Radiovorträge. Die Heterotopien und Der utopische Körper sind zwei kurze Radiovorträge Michel Foucaults, die 1966 im Rahmen der Sendung Culture française ausgestrahlt wurden. Der Suhrkamp Verlag hat die beiden Texte 2005 in einer kleinen zweisprachigen Ausgabe aufgelegt. Und für alle, die sich nicht die Mühe machen wollen zu lesen, hat der Verlag eine CD mit den beiden Vorträgen im Orginalton beigelegt. (Nicht dass es Mühe machen würde, diese beiden kurzen Texte zu lesen,). Da das gesprochene Worte nicht bis ins letzte verschriftlicht werden kann, ist das Zuhören eine aufschlussreiche Abwechslung. Wobei es durch mangelnde Sprachkenntnisse durchaus erschwert werden kann. Der Text Raum zum Hören von Daniel Defert widerum ist uneingeschränkt lesenswert.

12 Januar, 2009

Genealogie bei Darwin und Foucault

„Darwin zeigt nicht nur, dass die Natur selbst historisch ist, sondern entwickelt auch eine Methode der Erforschung der Geschichte, die er »genealogisch« nennt, und Foucault folgt ihm darin. [...] Darwin sagt von sich selbst, er sei Genealoge. Er will Herkunft rekonstruieren, aber natürlich, ohne auf »Wappenbücher und Stammbäume«, wie er sagt, zurückgreifen zu können. Deshalb interessiert er sich für Rudimente am Körper, für Spuren der Erinnerung an frühere Formen des Lebens. Bei dieser genealogischen Rekonstruktion zeigt sich, dass es, zum Beispiel, keinen »ursprünglichen« Löwen geben kann. Es gibt nie ein ursprüngliches Wesen, nichts Eigentliches, keine Identität, nur Zerstreuung. Natur ist unendliche Vielfalt und allgegenwärtige Abhängigkeit. Und so geht auch Michel Foucault vor: Er rekonstruiert Herkunftsgeschichte und löst dabei auf, was identisch und »wesenhaft« erscheint. Genealogie ist eine Methode, die Kräfteverhältnisse entdeckt. Sie stößt dabei immer auf Konflikte, nicht auf Harmonie. Doch im Gegensatz zur Hegelschen Geschichtsauffassung, die ja auch von Konflikten ausgeht, hat diese Geschichte kein Ziel, gibt es keine dialektischen Synthesen – und keinen Geist.“ [Philipp Sarasin in der Zeit, 8.01.2009]

Das komplette ZEIT-Interview mit Philipp Sarasin über Darwin vom 8.01.2009
Nichts bleibt je, wie es ist

Der Historiker Philipp Sarasin hat auch ein Buch über Darwin und Foucault geschrieben, das demnächst erscheint: Darwin und Foucault: Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie
Als Vorgeschmack gibts eine planlose Katze, weil ohnehin nichts bleibt wie es ist und am Mittwoch, 14. Januar 2009 in München (LMU, Hgb, HS M218) einen Vortrag über unreine Anfänge im Rahmen der Vorlesungsreihe Anfang und Evolution.

taz-Artikel: Die Katze ohne Plan vom 17.12.2008