22 November, 2008

Freiheit als Bedingung der Machtausübung

"Vielleicht eigenet sich ein Begriff wie Führung gerade kraft seines Doppelsinns gut dazu, das Spezifische an den Machtverhältnissen zu erfassen. 'Führung' ist zugleich die Tätigkeit des 'Anführens' anderer [...] und sie Weise des Sich-Aufführens in einem mehr oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten. Machtausübung besteht im 'Führen der Führungen' und in der Schaffung der Wahrscheinlichkeit. Im Grund ist Macht wengier von der Art der Konfrontation zweier Gegner oder der Verpflichtung des einen gegenüber dem anderen, als von der 'Regierung'. Man muß diesem Wort die sehr weite Bedeutung lassen, die es im 16. Jahrhundert hatte. Es bezog sich nicht nur auf politische Strukturen und auf die Verwaltung von Staaten, sondern bezeichnete die Weise, in der das Benehmen von Individuen oder Gruppen gelenkt wurde: Regierung der Kinder, der Seelen, der Gemeinden, der Familien, der Kranken. Es deckte nicht bloß eingesetze und legitime Formen der politischen oder wirtschaftlichen Unterwerfung ab, sondern auch mehr oder weniger bedachte und berechnete Handlungsweisen, die dazu bestimmt waren, auf die Handlungsmöglichkeiten anderer Individuen einzuwirken. Regieren heißt in diesem Sinne, das Feld eventuellen Handelns der anderen zu strukturieren. Die der Macht eigene Verhältnisweise wäre somit weder auf seiten der Gewalt und des Kampfes, noch auf seiten des Vertrags und der Willensbande (die allenfalls ihre Instrumente sein können) zu suchen, vielmehr auf seiten dieser einzigartigen, weder kriegerischen noch juridischen Weise des Handelns: des lenkend einwirkenden Regierens.
Wenn man Machtausübung als eine Weise der Einwirkung auf die Handlungen anderer definiert, wenn man sie durch das 'Regieren' - im weitesten Sinn dieses Wortes - der Menschen untereinander kennzeichnet, nimmt man ein wichtiges Element mit hinein: das der Freiheit. Macht wird nur auf 'freie Subjekte' ausgeübt und nur sofern diese 'frei' sind."
[Michel Foucault: Dits et Ecrits]

20 November, 2008

Ja sagen zur Begierde als Regierungstechnik

„Die Begierde – ein alter Begriff, der seinen Auftritt und seine Anwendung in der Gewissensführung hatte [...], die Begierde hat jetzt einen zweiten Auftritt im Inneren der Macht und Regierungstechniken. Alle Individuen handeln auf Grund der Begierde. Einer Begierde, gegen die man nichts tun kann. [...] Versucht nicht, sie zu ändern, das läßt sich nicht ändern. Doch – und an diesem Punkt prägt diese Naturalität der Begierde der Bevölkerung und wird für die gouvernementale Technik durchdringbar – diese Begierde ist, aus Gründen, auf die zurückzukommen wäre und die eines der wichtigen theoretischen Elemente es gesamten Systems bilden, diese Begierde ist derart, daß sie, wenn man ihr die Möglichkeit der Entfaltung läßt, in gewissen Grenzen und dank einer gewissen Anzahl von Bezugsrahmen und Verbindungen insgesamt, den allgemeinen Nutzen für die Bevölkerung hervorbringt. [...] Die Hervorbringung des Kollektivinteresses durch das Spiel der Begierde. Dies prägt zugleich die Naturalität der Bevölkerung und die mögliche Artifizialität der Mittel, die einem gegeben sind, um sie zu verwalten.“

Die Idee Bevölkerungen ausgehend von der Naturalität der Begierde zu verwalten ist
„[...] der alten ethisch juridischen Konzeption der Regierung und der Ausübung der Souveränität vollkommen entgegengesetzt. [...] Der Souverän ist derjenige, der fähig ist, nein zur Begierde eines jeden Individuums zu sagen, wobei das Problem darin liegt, zu wissen, wie dieses der Begierde der Individuen entgegengesetzte ‚Nein' legitim und auf den Willen dieser Individuen selbst gegründet werden kann. [...] Das Problem derjenigen, die regieren, darf es absolut nicht sein, zu erfahren, wie sie nein sagen können, bis wohin sie nein sagen können, mit welcher Berechtigung sie nein sagen können. Das Problem ist, zu wissen, wie ja sagen zu dieser Begierde. Also nicht die Eingrenzung der Konkupiszenz oder die Eingrenzung der Eigenliebe im Sinne von Liebe seiner selbst, sondern im Gegenteil all das, was diese Eigenliebe, diese Begierde derart anregt und begünstigt, daß sie tatsächlich die wohltuenden Wirkungen hervorbringen kann, die sie notwendigerweise hervorbringen muß.“

„Es gibt also keine Menge von juridischen Subjekten, sei es individuell oder kollektiv, mit einem souveränen Willen. Die Bevölkerung ist eine Gesamtheit von Elementen, in deren Innerem man Konstanten und Regelmäßigkeiten bis in die Ereignisse hinein feststellen kann, in deren Innerem man das Universelle der Begierde orten kann, die regelmäßig den Nutzen aller hervorbringt und für die man eine gewisse Anzahl von Variablen ausweisen kann, von denen sie abhängt und die geeignet sind, sie zu modifizieren.“
[Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität 1]