23 August, 2008

Der Foucaultsche Werkzeugkasten

Das erste Kapitel aus meiner Magisterarbeit [Die Machtsysteme demontieren ... Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität]

„Ich könnte Ihnen sagen ..." [1]

Im Krebsgang …
Foucaults Werk wird häufig als fragmentarisch, wenn nicht sogar als zerrissen und widersprüchlich beschrieben und auch Foucault selbst bestätigt, dass dieser Eindruck entstehen kann. Am 31. Januar 1979, während einer Vorlesung am Collège de France, sagt er zu seinem methodischen Vorgehen: „[…] denn, wie Sie wissen, bin ich wie ein Krebs, ich bewege mich seitwärts […].“[2] Dies macht es in der Tat manchmal nicht ganz einfach, einen roten Faden zu finden. Aus der Nähe betrachtet, wirken seine Bücher manchmal wie unzusammenhängende Spuren. Statt sich aufeinander zu beziehen, scheinen sie beziehungslos nebeneinander zu stehen und sich bisweilen sogar zu widersprechen. Fink-Eitel geht in seiner Einführung zu Foucault sogar so weit, zu bemerken, dass man, wenn man es nicht wüßte, die Bücher Foucaults „[…] für die Werke verschiedener Autoren halten könnte […].“[3] Während der Vorlesung vom 7. Januar 1976 erklärt Foucault diesen Eindruck folgendermaßen:

„Was mich betrifft, so kam ich mir wie ein Fisch vor, der aus dem Wasser hochspringt und auf der Oberfläche eine kleine, kurze Schaumspur hinterläßt und der glauben machen will oder glauben möchte oder vielleicht tatsächlich selbst glaubt, daß er weiter unten, dort, wo man ihn nicht mehr sieht, wo er von niemandem bemerkt oder kontrolliert wird, einer tieferen, kohärenteren, vernünftigeren Bahn folgt.“
[4]

Tatsächlich sind Foucaults Bücher mehr als nur Fragmente, es gibt einen roten Faden, der sich durch sein Werk zieht, auch wenn dieser nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen ist. Um die Bahn, der er folgt, sehen zu können, ist es allerdings notwendig, aus einiger Entfernung auf die Schaumspur zu blicken, die seine einzelnen Bücher hinterlassen haben. Dass sich Foucaults Schwerpunktsetzungen und theoretische Positionen im Laufe der Jahre verschieben, ist weniger ein Indiz dafür, dass sein Vorgehen und seine Positionen inkohärent sind, als Zeichen einer fortwährenden Entwicklung. Er schwimmt nicht auf der Stelle, sondern er folgt unter der Oberfläche einer Bahn, was an den Schaumspuren, die seine Bücher hinterlassen, sichtbar wird. Seinen Kritikern stellt er die Frage: „Glauben Sie, dass ich während all dieser Jahre so viel gearbeitet habe, um dasselbe zu sagen und nicht verwandelt zu werden?“
[5] Und in einem Gespräch mit Rux Martin vom Oktober 1982 bemerkt er:

„Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war. Wenn Sie ein Buch beginnen und wissen schon am Anfang, was Sie am Ende sagen werden, hätten Sie dann noch den Mut, es zu schreiben? Was für das Schreiben gilt und für eine Liebesbeziehung, das gilt für das Leben überhaupt. Das Spiel ist deshalb lohnend, weil wir nicht wissen, was am Ende dabei herauskommen wird.“
[6]

Versucht man sein Gesamtwerk vor diesem Hintergrund zu systematisieren, dann erscheint es schlüssig, es in verschiedene chronologisch aufeinanderfolgende Phasen einzuteilen: die Archäologie in den 1960er Jahren, die Genealogie in den 1970er Jahren und die Subjekttheorie in den 1980er Jahren.[7] Während der archäologischen Phase entwickelt Foucault seine Diskurstheorie und konzentriert sich auf die Analyse diskursiver Formationen. Im Zentrum seiner Analysen steht die Aussage, ihre politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen vernachlässigt er. Diese treten während der genealogischen Phase in den Vordergrund, während der Foucault sich auf die Analyse der Machtmechanismen und ihr Verhältnis zu den Wissensformen konzentriert. Während der subjekttheoretischen Phase befasst er sich schließlich mit der Ethik des Selbst: Subjektivierungsformen, Selbstführungskonzepte und das Verhältnis von Macht und Subjektivität rücken während dieser Phase in den Mittelpunkt seines Interesses.
Ordnet man die zu Lebzeiten veröffentlichten Hauptwerke Foucaults den jeweiligen Phasen zu, dann gehören Wahnsinn und Gesellschaft
[8], Die Geburt der Klinik[9], Die Ordnung der Dinge[10] und die Archäologie des Wissens[11] zur archäologischen oder diskurstheoretischen Phase. Das aus der Antrittsvorlesung Foucaults am 2. Dezember 1970 anlässlich seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Geschichte der Denksysteme am Collège de France hervorgegangene Buch Die Ordnung des Diskurses[12] bildet den Übergang von der archäologischen zur genealogischen Phase und ordnet sich folglich zwischen diese beiden Phasen ein. Überwachen und Strafen[13] und der erste Band von Sexualität und Wahrheit, Der Wille zum Wissen[14], sind der genealogischen oder machtanalytischen Phase zuzuordnen und die Bände zwei und drei von Sexualität und Wahrheit, Der Gebrauch der Lüste[15] und Die Sorge um sich[16], der Subjekttheorie und der Ethik des Selbst.[17]
Der theoretische Bruch, der häufig zwischen der Machtanalytik der zweiten Phase und der Subjekttheorie der dritten Phase konstatiert wird und der auf der Annahme beruht, dass sich Foucaults Machtanalytik selbst in eine Sackgasse manövriert hat und Foucault diese deshalb verworfen und das theoretische Feld hin zur Subjekttheorie gewechselt hat, ist ungenau. Fink-Eitel irrt sich, wenn er schreibt: „Die Machttheorie sitzt in dem Käfig fest, den sie sich selbst gebaut hat [...].“[18] Die Schlussfolgerung von Lemke, dass Foucaults Beschäftigung mit den Subjektivierungsprozessen Ergebnis und Konsequenz seiner Auseinandersetzung mit den Machtpraktiken und als deren Erweiterung aufzufassen ist, erscheint dagegen überzeugender.[19]
Lässt man Foucault die Entwicklung der Themen und Fragestellungen, welche seiner theoretischen Arbeit zugrunde liegt, rückblickend selbst beschreiben, dann erscheint diese durchaus kohärent:

„Bisher habe ich drei traditionelle Probleme untersucht: 1. Welches Verhältnis haben wir zur Wahrheit durch wissenschaftliche Erkenntnis, zu jenen 'Wahrheitsspielen', die so große Bedeutung in der Zivilisation besitzen und deren Subjekt und Objekt wir gleichermaßen sind? 2. Welches Verhältnis haben wir aufgrund dieser seltsamen Strategien und Machtbeziehungen zu den anderen? 3. Welche Beziehungen bestehen zwischen Wahrheit, Macht und Subjekt? Ich möchte all das mit einer Frage beschließen: Was könnte klassischer sein als diese Fragen und systematischer als der Weg von Frage eins über Frage zwei zu Frage drei und zurück zu Frage eins. Genau an diesem Punkt bin ich jetzt.“
[20]



… mit Hilfe der Genealogie …
Foucault entwickelt keinen eigenständigen und einheitlichen Theorieapparat, von dem ausgehend er sich seinen Untersuchungsgegenständen nähert. Mit der Archäologie und der Genealogie entwirft er zwar zwei zentrale Untersuchungsmethoden, allerdings sind diese eher als übergeordnete Herangehensweisen aufzufassen, die er gegebenenfalls an seine Untersuchungsgegenstände anpasst. So sagt er selbst: „Ich habe keine Methode, die ich unterschiedslos auf verschiedene Bereiche anwende.“[21] Stattdessen entwickelt er seine Analyseinstrumente immer in Bezug auf die jeweiligen Objekte, die er untersucht, da, wie er meint,

„[…] keine Methode um ihrer selbst willen eingesetzt werden darf.“
[22] Mit dem Diskurs untersucht er den Wahnsinn, mit dem Dispositiv die Delinquenz, die Sexualität anhand der Macht/Wissen-Komplexe und den Staat mit Hilfe der Gouvernementalität.[23]

„Ich taste mich voran und fabriziere nach besten Kräften Instrumente, die Objekte sichtbar machen sollen. Ein wenig sind diese Objekte durch die guten oder schlechten Instrumente bestimmt, die ich da fabriziere. Und sie sind falsch, wenn meine Instrumente falsch sind... Ich versuche, meine Instrumente über die Objekte zu korrigieren, die ich damit zu entdecken glaube, und dann zeigt das korrigierte Instrument, dass die von mir definierten Objekte nicht ganz so sind, wie ich gedacht hatte. So taste ich mich voran oder stolpere von Buch zu Buch.“
[24]
Dass Foucault seine Analyseinstrumente an den von ihm untersuchten Objekten ausrichtet, bedeutet jedoch nicht, dass er diese Objekte zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen macht. Im Gegenteil, er untersucht die Geschichte des Wahnsinns, des Staates, der Delinquenz oder der Sexualität, indem er von deren Nicht-Existenz ausgeht. Foucault befragt den Wahnsinn oder den Staat nicht nach ihrer Geschichte oder Entwicklung, sondern er fragt nach den Bedingungen und Praktiken, die diese als Objekte konstituiert haben. Statt Universalien[25] wie den Staat oder den Wahnsinn als Raster zu nehmen, in das sich konkrete Praktiken einordnen lassen, nimmt er die konkreten Praktiken als Raster, in das er die Universalien einordnet.[26] Er sagt nicht, angenommen der Wahnsinn oder der Staat existieren, wie ist ihre Geschichte, wie hat sich ihr Erscheinungsbild im Laufe der Zeit verändert. Er sagt statt dessen:

„Angenommen, der Wahnsinn existiert nicht. Was ist dann die Geschichte, die man anhand dieser verschiedenen Ereignisse, dieser verschiedenen Praktiken schreiben kann, die sich anscheinend um diese unterstellte Sache, den Wahnsinn, gruppieren?“
[27]

Dies bedeutet nicht, dass es sich bei den Phänomenen, auf die sich der Begriff Wahnsinn bezieht, um bloße Trugbilder handelt. Mit der Feststellung, der Wahnsinn existiere nicht, möchte Foucault weniger die Existenz der Phänomene, die als Wahnsinn bezeichnet werden, leugnen, sondern vielmehr den dem Wahnsinn unterstellten universellen Charakter zurückweisen. Es geht Foucault aber um mehr als die bloße Feststellung, dass sich das Erscheinungsbild und die Wahrnehmung von Universalien wie beispielsweise dem Wahnsinn mit der Zeit verändern können, es geht ihm darum, die Bedingungen zu erkennen, „[…] die es den Regeln des Wahr- oder Falsch-Sagens folgend erlauben, ein Subjekt als geisteskrank zu erkennen […]“
[28] und „[…] die Bewegung zu erfassen, mit deren Hilfe […] sich ein Wahrheitsfeld mitsamt der Wissensgegenstände bildete.“[29]
Diese Vorgehensweise ist ein Teil der Foucaultschen Genealogie, die er in Anlehnung an Nietzsches Genealogie der Moral[30] entwickelt. Mit dem allgemeinen Verständnis von Genealogie im Sinne von Abstammungs- oder Verwandtschaftslehre hat diese jedoch nur sehr entfernt etwas zu tun.[31] Die Genealogie Foucaults beschäftigt sich in erster Linie mit den äußeren Bedingungen und den sozialen Praktiken, die den Diskurs ermöglichen. Im Zentrum des genealogischen Interesses befindet sich im Gegensatz zur Archäologie, die sich vor allem mit den immanenten Regeln des Diskurses im Rahmen der Sprache und Zeichen befasst, die Frage nach den Machtverhältnissen.
Wie Foucault während der Vorlesung vom 8. Februar 1978 darlegt, besteht das Vorgehen der genealogischen Analyse darin, aus der Institution herauszutreten und die Machtbeziehungen ausgehend von den Technologien und Strategien zu analysieren.

„Eine derartige Methode besteht im Grunde genommen darin, hinter die Institution zu gelangen, um hinter ihr […] das wiederzufinden, was man eine Machttechnologie nennen kann. Gerade von da her macht es diese Analyse möglich, […] eine genealogische Analyse, die ein ganzes Geflecht von Bündnissen, Verbindungen, Stützpunkten rekonstruiert. […] Man muß aus der Institution heraustreten, um sie durch den globalen Gesichtspunkt der Machttechnologie zu ersetzen.“
[32]

Das heißt, um den Wahnsinn zu verstehen, genügt es nicht, die Psychiatrie von innen heraus zu untersuchen, sondern es ist notwendig, sie im Verhältnis zum Außenraum der Gesellschaft zu analysieren. Ebensowenig ist es ausreichend, die innere Funktion der Psychiatrie zu untersuchen, stattdessen muss analysiert werden, in welche äußeren Strategien und Taktiken sie eingebettet ist.
Foucault bezeichnet die Genealogie auch als Anti-Wissenschaft, die den absoluten Wahrheitsanspruch der Wissenschaften kritisieren und deren Hierarchisierungen und Machtwirkungen unterlaufen soll. Die Genealogie bringt die unterdrückten und nicht-qualifizierten Wissensarten wie beispielsweise das Wissen der Kranken, das Wissen der Psychiatrisierten und das Wissen der Delinquenten ins Spiel und führt sie gegen das anerkannte Wissen der Wissenschaft ins Feld.

„Die Genealogie wäre somit […] eine Art Versuch, die historischen Wissensarten aus der Unterwerfung zu befreien, d. h. sie fähig zum Widerstand und zum Kampf gegen den Zwang eines theoretischen, einheitlichen, formalen und wissenschaftlichen Diskurses zu machen. Aktivierung der lokalen [...] Wissensarten gegen die wissenschaftliche Hierarchisierung des Wissens und die ihr innewohnenden Machtwirkungen: genau das ist die Absicht dieser ungeordneten und fragmentarischen Genealogien.“
[33]

Den Wahrheitsanspruch der Wissenschaften in Frage zu stellen bedeutet auch, dass die Genealogie nicht nach einem Ursprung sucht, da die Suche nach dem Ursprung immer auch eine Suche nach dem Ort der Wahrheit ist. Die Genealogie sucht statt dessen nach der Entstehung und der Herkunft. Dabei geht es weder darum, die Geschichte von einem Endpunkt aus zu erklären, noch eine Kontinuität zwischen der Abfolge von Ereignissen herzustellen. Im Gegenteil, die Suche nach der Entstehung und der Herkunft ist der Suche nach dem Ursprung entgegengesetzt. Sie soll die Kontinuität und Kohärenz auflösen und die Zufälligkeiten, Abweichungen, Irrtümer und Richtungswechsel der Ereignisse aufzeigen. „Die Erforschung der Herkunft schafft keine sichere Grundlage; sie erschüttert, was man für unerschütterlich hielt; sie zerbricht, was man als eins empfand; sie erweist als heterogen, was mit sich übereinzustimmen schien.“[34] Die Entstehung ist nicht wie der Ursprung ein Ort der Wahrheit und Begründung, von dem ausgehend eine kontinuierliche Entwicklung gezeichnet wird. Entstehung meint statt dessen das zufällige Auftauchen innerhalb eines zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen Kräftefeldes. Die Analyse der Entstehung hat das Ziel, dieses Kräftefeld, das sie hat auftauchen lassen, sichtbar zu machen.[35]
Der Genealogie geht es nicht darum, die Wahrheit, das Wesen oder den Kern der Dinge zu entdecken, sondern darum, aufzudecken, dass es eine solche Wahrheit nicht gibt, dass die Dinge kein Wesen und keinen Kern besitzen. Sie sucht nicht nach einer sinnstiftenden Begründung als Bedingung unserer Existenz, indem sie versucht, den Ursprung und die Einheit unserer Identität nachzuzeichnen. Vielmehr versucht sie, die Kontingenz und die Zufälligkeit unserer gegenwärtigen Existenz aufzuzeigen. „[...] es heißt entdecken, dass an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit liegt und auch nicht das Sein, sondern die Äußerlichkeit des Zufalls.“
[36] Statt einen kontinuierlichen Bogen zwischen einem vorgestellten Ursprung und der Gegenwart zu spannen, zerbricht die Genealogie die von der Geschichtsschreibung konstruierte kontinuierliche Entwicklung unserer Existenz. Sie löst die Einheit unserer Identität auf und verweist auf die Brüche und Diskontinuitäten unserer Herkunft und Entstehung.
Die Genealogie beschäftigt sich mit der Konstitution von Wissen, Diskursen und Dingen, vermeidet gleichzeitig aber, sich auf ein konstituierendes Subjekt zu beziehen:

„[…] das heißt, man muss zu einer Analyse gelangen, die der Konstitution des Subjekts in der historischen Verlaufsform Rechnung tragen könnte. Und das ist das, was ich Genealogie nennen würde, das heißt eine Form von Geschichte, die der Konstitution der Wissensarten, der Diskurse, der Gegenstandsbereiche usw. Rechnung trägt, ohne sich auf ein Subjekt beziehen zu müssen […].“
[37]

Indem die Genealogie ein konstituierendes Subjekt verwirft und statt dessen das Subjekt selbst als konstituiert beschreibt, macht sie nicht nur deutlich, dass wir nicht zwangsläufig das sein müssen, was wir gegenwärtig sind. Sie führt uns damit auch die Freiheit vor Augen, uns zu verändern. Die Genealogie „[…] wird vielmehr aus der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit herauslösen, nicht mehr das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken.“[38]



… die Machtverhältnisse demontieren
Die Genealogie liefert keinen Ursprung und keine Wahrheit, sie sucht nicht nach dem Wesen der Dinge, sie durchbricht die kontinuierliche Abfolge geschichtlicher Ereignisse und verabschiedet sich vom erkennenden Subjekt. Die Genealogie untersucht die Macht- und Kräfteverhältnisse, in denen sich die Diskurse formieren, sie betont die Diskontinuität und Zufälligkeit der Ereignisse und verweist auf die Brüche, die unsere Identität durchziehen.
Bezugs- und Ausgangspunkt einer genealogischen Untersuchung ist für Foucault immer die Gegenwart. „Genealogie heißt, dass ich die Analyse von einer gegenwärtigen Frage aus betreibe.“
[39] Eine gegenwärtige Fragestellung oder ein gegenwärtiges Problem als Ausgangs- und Bezugspunkt für eine genealogische Untersuchung zu nehmen bedeutet jedoch nicht, die gegenwärtige Realität auch als End- oder Zielpunkt zu setzen, auf den sich die geschichtlichen Ereignisse in einer teleologischen Entwicklung ausgerichtet haben. Das Gegenteil ist der Fall. Die Genealogie will zeigen, dass das, was ist, nicht notwendigerweise so sein muss, wie es jetzt ist, sondern nur eine von vielen unterschiedlichen Möglichkeiten darstellt. Indem sie aufzeigt, dass die historische Entwicklung weniger eine logische Abfolge, sondern vielmehr eine zufällige Verkettung von Ereignissen darstellt, verweist sie auf die Kontingenz der Verhältnisse, in denen wir aktuell leben. In dem Gespräch mit Rux Martin vom Oktober 1982 sagt Foucault folgendes:
„Ich möchte zeigen, dass viele Dinge, die Teil unserer Landschaft sind – und für universell gehalten werden –, das Ergebnis ganz bestimmter geschichtlicher Veränderungen sind. Alle meine Untersuchungen richten sich gegen den Gedanken universeller Notwendigkeiten im menschlichen Dasein. Sie helfen entdecken, wie willkürlich Institutionen sind, welche Freiheit wir immer noch haben und wie viel Wandel immer noch möglich ist.“
[40]
Indem sie das Fundament des gegenwärtig allgemein anerkannten Wissens untergräbt, ist die Foucaultsche Genealogie somit immer auch eine Möglichkeit, die gegenwärtige Realität zu hinterfragen und zu kritisieren. Dass sich Foucault mit seinen Untersuchungen gegen die Vorstellung von universellen Notwendigkeiten und Wahrheiten wendet, ist kein Zufall, sondern das Prinzip, nach dem er seine gesamte Arbeitsweise organisiert und das Ziel, auf das er seine Untersuchungen ausrichtet. Kritik an den gegebenen Machtverhältnissen zu üben ist für Foucault Antrieb zu schreiben.[41] Aus diesem Grund ist es für ihn und für das Verständnis seiner Arbeiten wichtig, dass sich sein Denken immer auch rückkoppelt mit konkreten politischen Kämpfen. Foucault ist nicht nur Wissenschaftler oder Philosoph, er ist auch politischer Aktivist. Wenn er es für notwendig erachtet, bezieht er politisch Stellung. So ist er beispielsweise Anfang der 1970er Jahre in der Gruppe Gefängnis-Information aktiv, die sich mit der Organisation von Demonstrationen und Pressekonferenzen und der Veröffentlichung von Artikeln kritisch zur Institution Gefängnis positioniert.[42] In einem Interview sagt er zu der Ausrichtung dieser Aktivitäten:

„Wenn man das Bewusstsein der Menschen verändern wollte, bräuchte man nur Zeitschriften und Bücher zu publizieren und einen Radio- oder Fernsehproduzenten für seine Ideen zu gewinnen. Wir wollen aber die Institution angreifen [...]. Wir wollen diese gelebte Ideologie über die dichte institutionelle Schicht verändern, in der sie sich eingenistet und auskristallisiert hat und in der sie sich reproduziert. Vereinfacht könnte man sagen, der Humanismus will das ideologische System ändern, ohne die Institution anzurühren; der Reformismus will die Institution ändern, ohne das ideologische System anzurühren. Revolutionäre Aktion bedeutet dagegen gleichzeitige Erschütterung des Bewusstseins und der Institution; und dazu muss sie die Machtverhältnisse angreifen, deren Werkzeug, Waffe und Panzer sie sind.“
[43]

Diese politischen Aktivitäten haben seine wissenschaftlichen Fragestellungen ebenso beeinflusst, wie seine wissenschafltichen Arbeiten von seinen politischen Interventionen beeinflusst sind. Eins zu eins übersetzen lassen sich das Denken und Handeln Foucaults allerdings nicht. Trotz der vorhandenen Brüche und Widersprüche bleibt Foucault aber sowohl wissenschaftlich als auch politisch seiner Grundeinstellung treu, unbequeme Fragen zu stellen und das anerkannte Wissen und die gegenwärtigen Machtsysteme auch gegen Widerstand zu kritisieren.[44] Foucault geht es dabei auch immer darum, herrschende Gewissheiten in Frage zu stellen und aufzudecken, wie diese entstehen und wirken, sowie neue Denkräume zu erschließen, ohne diese gleichzeitig mit abschließenden Antworten in Besitz zu nehmen.[45] Und wenn er es als notwendig erachtet, zögert er nicht, auch seine eigenen früheren Aussagen und Positionierungen zu revidieren.[46] Ziel seiner Arbeit ist immer, Machtsysteme zu analysieren, um ihr Funktionieren besser verstehen zu können und auf dieser Basis Werkzeuge zu entwickeln, mit deren Hilfe diese Machtsysteme demontiert werden können. Foucault bezeichnet sich selbst als Kartographen und Richtungsanzeiger, als Planzeichner, Rezeptaussteller, Werkzeughändler und Waffenschmied.[47]

„Alle meine Bücher ..."
[48]

[zara pfeiffer]

[1] Foucault, Michel: Historisches Wissen der Kämpfe und Macht. Vorlesung vom 7. Januar 1976, in: Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve, 1978, S. 56. Siehe auch Michel Foucault: Vorlesung vom 7. Januar 1976, Dits et Ecrits III, Nr. 193, S. 214.
[2] Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 116.
[3] Vgl. Fink-Eitel, Hinrich: Michel Foucault zur Einführung, 3. durchges. Aufl., Hamburg: Junius, 1997, S. 10
[4] Foucault: Historisches Wissen der Kämpfe und Macht, 1978, S. 56. Siehe auch Michel Foucault: Vorlesung vom 7. Januar 1976, Dits et Ecrits III, Nr. 193, S. 214.
[5] Foucault, Michel: Michel Foucault, interviewt von Stephen Riggins, Dits et Ecrits IV, Nr. 336, S. 653.
[6] Foucault, Michel: Wahrheit, Macht, Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault (25. Oktober 1982), Dits et Ecrits IV, Nr. 362, S. 960.
[7] Fink-Eitel erwähnt noch eine vierte Phase, welche er in den 1950er Jahren verortet und in der Foucault eine von Heidegger inspirierte Philosophie vertritt. Vgl. Fink-Eitel: Michel Foucault zur Einführung, 1997, S. 103. Andere Autoren wiederum verzichten darauf, diese Zeit Foucaults Denkens als Phase gleichberechtigt neben die Archäologie, die Genealogie und die Subjekttheorie zu stellen. Vgl. Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge, Paderborn: Wilhelm Fink, 2007, S. 53.
[8] Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969.
[9] Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, 6. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer, 2002.
[10] Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974.
[11] Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981.
[12] Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, München: Hanser, 1974.
[13] Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977.
[14] Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Erster Band, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983.
[15] Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit. Zweiter Band, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989.
[16] Foucault, Michel: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit. Dritter Band, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989.
[17] Vgl. Ruoff: Foucault-Lexikon, 2007, S. 21ff.
[18] Fink-Eitel: Michel Foucault zur Einführung, 1997, S. 102.
[19] Vgl. Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Berlin/Hamburg: Argument, 1997, S. 29.
[20] Foucault: Wahrheit, Macht, Selbst, Dits et Ecrits IV, Nr. 362, S. 965f.
[21] Foucault: Macht und Wissen, Dits et Ecrits III, Nr. 216, S. 521f.
[22] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 179.
[23] Vgl. Lemke, Thomas: Geschichte und Erfahrung. Michel Foucault und die Spuren der Macht, in: Michel Foucault: Analytik der Macht, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Auswahl und Nachwort von Thomas Lemke, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S. 320.
[24] Foucault: Macht und Wissen, Dits et Ecrits III, Nr. 216, S. 521f.
[25] Foucault stützt sich hier auf das Geschichtsverständnis von Paul Veyne und dessen Überlegungen über historische Universalien. Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, Dits et Ecrits III, Nr. 274, S. 1020.
[26] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 15; laut Daniel Defert notiert Foucault am 7. Januar 1979: „Die Universalien nicht dem Hobel der Geschichte überlassen, sondern die Geschichte anhand eines Denkens aufrollen, das die Universalien verwirft. Aber welche Geschichte?“ Defert, Daniel: Zeittafel, in: Daniel Defert et al. (Hg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band I. 1954-1969, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S. 89.
[27] Foucault: Die Geburt der Biopolitik, 2006, S. 16.
[28] Foucault: Foucault, Dits et Ecrits IV, Nr. 345, S. 780.
[29] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 177.
[30] Vgl. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. durchgesehene Aufl., München: dtv, 1988.
[31] In seinem Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie entwickelt Foucault 1971 erstmals eine systematische Darstellung der genealogischen Methode. Vgl. Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, Dits et Ecrits II, Nr. 84, S. 166-191.
[32] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 175f.
[33] Foucault: Historisches Wissen der Kämpfe und Macht, 1978, S. 64f. Siehe auch Foucault, Michel: Vorlesung vom 7. Januar 1976, Dits et Ecrits III, Nr. 193, S. 221.
[34] Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, Dits et Ecrits II, Nr. 84, S. 173.
[35] Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, Dits et Ecrits II, Nr. 84, S. 174f.
[36] Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, Dits et Ecrits II, Nr. 84, S. 172.
[37] Foucault, Michel: Gespräch mit Michel Foucault, Dits et Ecrits III, Nr. 192, S. 195.
[38] Foucault, Michel: Was ist Aufklärung, Dits et Ecrits IV, Nr. 339, S. 702f.
[39] Foucault, Michel: Die Sorge um die Wahrheit, Dits et Ecrits IV, Nr. 350, S. 831.
[40] Foucault: Wahrheit, Macht, Selbst, Dits et Ecrits IV, Nr. 362, S. 961.
[41] Vgl. Foucault, Michel: Die fröhliche Wissenschaft des Judos. Ein Gespräch mit Jean-Louis Ezine, in: Michel Foucault, Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin: Merve, 1976, S. 129. Siehe auch Foucault, Michel: Auf dem Präsentierteller, Dits et Ecrits II, Nr. 152, S. 894f.
[42] Die Gruppe Gefängnis-Information war ein Kreis von Intellektuellen, dem u. a. auch Jean-Marie Domenach, Pierre Vidal-Naquet, Daniel Defert, Gilles Deleuze, Jacques Donzelot, Robert Castel und Jacques Rancière angehörten. Vgl. Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft, 1997, S. 62ff.
[43] Foucault, Michel: Jenseits von Gut und Böse, Dits et Ecrits II, Nr. 98, S. 283.
[44] Foucaults politische Aktivitäten beschränken sich nicht auf die Gruppe Gefängnis-Information. Unter anderem unterstützt er die polnische Gewerkschaft Solidarność, beteiligt sich an antirassistischen Initiativen, kämpft für das Recht auf Asyl und setzt sich für die sexuelle Selbstbestimmung Homosexueller ein. Vgl. Lemke: Geschichte und Erfahrung. Michel Foucault und die Spuren der Macht, 2005, S. 326.
[45] Vgl. Ewald, François: Foucault – Ein vagabundierendes Denken, in: Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wahrheit und Wissen, Berlin: Merve, 1978, S. 7f.
[46] Diese Bereitschaft Foucaults, seine Positionen gegebenenfalls zu revidieren, hat bezüglich seiner politischen Positionierung bisweilen ebenso für Verwirrung gesorgt wie manche Brüche zwischen seinem theoretischen Denken und seinem politischen Handeln. So gibt es höchst unterschiedliche Einschätzungen, welcher politischen Richtung Foucault zuzuordnen ist. Vgl. Schäfer, Velten: Links handeln und rechts denken? Zur Diskussion um Foucaults politische Heimat, in: Marvin Chlada/Gerd Dembowski (Hg.): Das Foucaultsche Labyrinth. Eine Einführung, Aschaffenburg: Alibri, 2002, S. 18-26.
[47] Vgl. Foucault: Die fröhliche Wissenschaft des Judo, 1976, S. 129. Siehe auch Foucault: Auf dem Präsentierteller, Dits et Ecrits II, Nr. 152, S. 895.
[48] Foucault, Michel: Von den Martern zu den Zellen. Ein Gespräch mit Roger-Pol Droit, in: Michel Foucault: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin: Merve, 1976, S. 53. Siehe auch Foucault, Michel: Von den Martern zu den Zellen, Dits et Ecrits II, Nr. 151, S. 887f.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

"Foucaults Werk wird häufig als fragmentarisch, wenn nicht sogar als zerrissen und widersprüchlich beschrieben"

Zuerst mal: der Artikel hat mir sehr gefallen! Und er wurde wohl mit größter Mühe gemacht, wenn ich mir die Literaturliste ansehe ;-) Möchte dem obigen Zitat nur hinzufügen, dass der "Widerspruch" in Foucaults Werk durchaus auch von ihm selbst so gesehen, in der Tradition Nietzsches steht, der ja auch ein, vielleicht sogar der große Widersprüchliche war. Foucault hat wohl gefallen an diesem Konzept gefunden und damit gespielt (und wollte wohl, abermals wie Nietzsche, kein dogmatisches Werk aufstellen).
Das ganz abgesehen von der lebendigen Entwicklung seines Werkes, die hier so anschaulich beschrieben wurde.

Beste Grüße!

hopscotchphil hat gesagt…

Toller Artikel! Besteht die Möglichkeit deine Magisterarbeit komplett zu lesen? Bzw ist sie irgendwo veröffentlicht worden?

Beste Grüße!