10 Mai, 2009

Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie

Für alle, die beim Begriff Genealogie immer noch nur an Stammbäume denken:
Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie:

"Die Genealogie kann darum nicht umhin, sich zu bescheiden: sie hat die Einmaligkeit der Ereignisse unter Verzicht auf eine monotone Finalität ausfindig zu machen; sie muß den Ereignissen dort auflauern, wo man sie am wenigsten erwartet und wo sie keine Geschichte zu haben scheinen - in den Gefühlen, der Liebe, dem Gewissen, den Instinkten; sie muß ihre Wiederkunft erfassen, nicht um die langsame Kurve der Entwicklung nachzuzeichnen, sondern um die verschiedenen Szenen wiederzufinden, auf welchen die Ereignisse verschiedene Rollen gespielt haben; [...] Die Genealogie verlangt also die peinliche Genauigkeit des Wissens, eine Vielzahl angehäufter Materialien, Geduld. [...] Sie ist also eine mit erbitterter Konsequenz betriebene Gelehrsamkeit. Die Genealogie verhält sich zur Historie nicht wie die hohe (und tiefe) Sicht des Philosophen zum Maulwurfblick des Gelehrten; vielmehr steht sie im Gegensatz zur metahistorischen Entfaltung der idealen Bedeutungen und unbegrenzten Teleologien. Sie steht im Gegensatz zur Suche nach dem 'Ursprung'."

"Wenn aber der Genealoge auf die Geschichte horchen will, anstatt der Metaphysik Glauben zu schenken, was erfährt er dann? Daß es hinter allen Dingen 'etwas anderes' gibt: nicht ihr wesenhaftes und zeitloses Geheimnis, sondern das Geheimnis, daß sie ohne Wesen sind oder daß ihr Wesen Stück für Stück aus Figuren, die ihm fremd waren, aufgebaut worden sind."

"Die Analyse der Herkunft führt zur Auflösung des Ich und läßt an den Orten und Plätzen seiner leeren Synthese tausend verlorene Ereignisse wimmeln. Die Analyse der Herkunft führt uns auch zu den unzähligen Ereignissen zurück, durch die (dank denen und gegen die) sich ein Begriff oder ein Charakter gebildet haben. Die Genealogie geht nicht in die Vergangenheit zurück, um eine große Kontinuität jenseits der Zerstreuung des Vergessenen zu errichten. Sie soll nicht zeigen, daß die Vergangenheit noch da ist, daß sie in der Gegenwart noch lebt und sie insgeheim belebt, nachdem sie allen Zeitläufen eine von Anfang an feststehende Form aufgedrückt hat. Nichts gleicht hier der Entwicklung einer Spezies oder dem Geschick eines Volkes. Dem komplexen Faden der Herkunft nachgehen heißt vielmehr das festhalten, was sich in ihrer Zerstreuung ereignet hat: die Zwischenfälle, die winzigen Abweichungen oder auch die totalen Umschwünge, die Irrtümer, die Schätzungsfehler, die falschen Rechnungen, die das entstehen ließen, was existiert für uns Wert hat. Es gilt zu entdecken, daß an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit und das Sein steht, sondern die Äußerlichkeit des Zufälligen. Darum verdient jeder Ursprung der Moral, sofern er nicht mehr verehrungswürdig ist - und die Herkunft ist es niemals - Kritik."

"Die genealogisch aufgefaßte Historie will nicht die Wurzeln unserer Identität wiederfinden, vielmehr möchte sie sie in alle Winde zerstreuen; sie will nicht den heimatlichen Herd ausfindig machen, von dem wir kommen, jenes erste Vaterland, in das wir den Versprechungen der Metaphysiker zufolge zurückkehren werden; vielmehr möchte sie alle Diskontinuitäten sichtbar machen, die uns durchkreuzen."
[Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, Dits et Ecrits II]

Die Genealogie und die Suche nach dem Ursprung